19.12.2020
Das Totschlagargument
Ich hörte neulich die Geschichte über einen Lungenfacharzt, der in einem Chor singt und aus fachlicher sowie persönlicher Sicht eigentlich keinen Grund sah, den Chorbetrieb einzustellen. Er besprach dies mit dem Chorleiter, der eine ähnliche Ansicht vertrat. Trotzdem beschlossen die beiden, den Chor nicht weiter zu betreiben, weil "man sich ja nie ganz sicher sein" könne. Sie wollten am Ende nicht die Verantwortung für den Tod eines Chormitglieds oder des betagten Familenangehörigen eines Chormitglieds tragen.
Hier sehe ich ein Problem. Was früher ein bedauernswerter Todesfall war, ist heute, sehr überspitzt gesagt, ein Mordfall.
Im Grunde hätten die beiden auch schon vor Corona so handeln können. In jeder Lebenslage kann es vorkommen, dass Krankheiten sich übertragen, dass ich jemanden anstecke, und der steckt jemanden anderen an, und der steckt wieder jemanden an, und der wiederum steckt seinen Großvater an, und der stirbt an einer Lungenentzündung. Das war schon immer so und wird auch so bleiben. Der Unterschied zu früher ist, dass heute jemand sich dafür schuldig fühlt.
Der Atem eines jeden kann zur tödlichen Waffe werden. Vielleicht könnte man einen Vergleich mit HIV heranziehen: Wenn ich weiß, dass ich HIV-positiv bin und mit jemandem ungeschützten Geschlechtsverkehr habe, ohne ihn über das Risiko aufzuklären, könnte man argumentieren, dass ich eine Art von fahrlässiger Krankmachung begehe, die irgendwann mal auch zum Tod führen kann, weswegen ich also in letzter Konsequenz der fahrlässigen Tötung angeklagt werden könnte.
Wenn ich aber meinem Geschlechtsverkehrpartner mitteile, dass ich HIV-positiv bin, und wenn wir beide - aus welchen Gründen auch immer (zum Beispiel, weil wir beide der Meinung sind, dass die Krankheiten, die man unter dem Namen AIDS zusammenfasst, gar nicht durch ein Virus erzeugt werden, sondern vielleicht etwas mit Drogenkonsum und/oder Mangelernährung zu tun haben) - gemeinsam beschließen, trotzdem ungeschützt unserem Vergnügen nachzugehen, dann kann man, glaube ich, nicht von fahrlässiger Tötung reden (selbst wenn unsere AIDS-Theorie nicht stimmt).
Wenn nun alle Chormitglieder beschließen, trotz des Risikos ungeschützt zu singen, und ein Sänger krank wird und stirbt, dann würde niemand dem Chorleiter oder dem Lungenfacharzt oder irgendeinem anderen Chormitglied einen Vorwurf machen, denn alle haben die Entscheidung getroffen, das Risiko einzugehen und auch die Konsequenzen zu tragen.
Was ist aber, wenn ein Sänger sich bei einem anderen ansteckt, gar nicht oder nur leicht krank wird und unwissentlich jemand anderen ansteckt - vielleicht einen Arbeitskollegen - und dieser steckt wiederum jemanden unwissentlich an und so weiter, bis am Ende jemand angesteckt wird, dessen Immunsystem nicht mit dem Virus umgehen kann und der ernsthaft erkrankt und vielleicht sogar daran stirbt? Genau diese Befürchtung ist es, aufgrund derer man vielleicht beschließt, den Chor nicht stattfinden zu lassen.
Das Chorsingen wird also vorsichtshalber ausgesetzt, genauso wie vorsichtshalber andere Veranstaltungen ausgesetzt und überhaupt soziale Kontakte eingeschränkt und teilweise sogar staatlich verboten werden. Und diese Strategie scheint vernünftig zu sein - sogar für den Lungenarzt, der aus fachlicher Sicht eigentlich das Risiko als geringfügig einschätzte. Er hat entgegen seines Wissens und entgegen seiner Bedürfnisse gegen das Singen votiert. Warum? Weil er die Befürchtung hatte, dass am Ende einer mehrstufigen Infektionskette vielleicht jemand sterben könnte - weil er den Tod über mehrere Stationen nicht 100%ig ausschließen konnte.
Ein Hauptbestandteil des Pandemie-Narrativs ist die Schuldzuweisung. Der vermeintlichen "Solidarität" steht der rücksichtslose Totschlag entgegen. Wir sind entweder nächstenliebende Maskenträger oder Mörder.
Dass jemandes Immunabwehr versagt und er einer Krankheit erliegt, wird zur Schuld eines seiner Mitmenschen erklärt.
Es gibt wahrscheinlich eine Menge Leute, die tatsächlich Angst vor einer fiesen Krankheit haben. Und diese Leute wollen sich schützen und tragen sicherheitshalber eine Maske (ob das nun etwas nützt oder nicht, sei dahingestellt). Und dann gibt es bestimmt auch eine große Zahl an Leuten, die Angst haben, sich schuldig zu machen und die deswegen eine Maske tragen und sicherheitshalber Abstand halten. Sie haben Angst, zu Mördern zu werden, oder zumindest davor, dass die Gesellschaft sie zu Mördern abstempelt.
Die Frage ist aber, wer dieses neue Paradigma in die Welt gebracht hat. Welches Parlament hat das Gesetz verabschiedet, das die Übertragung eines Virus von einem Menschen auf den anderen unter Strafe stellt?
01.08.2020
WAS GUCKST DU GERADE? - TV-Serie: ″The Americans″
Lutz [Sitzt am Küchentisch. Lena kommt herein und setzt sich dazu]: Lena! Lange nicht gesehen! Du kommst in letzter Zeit ja gar nicht mehr aus deinem Zimmer raus.
Lena: Ich gucke gerade eine Serie.
Lutz: Aha. Und was guckst du?
Lena: The Americans.
Lutz: Ach, ist das die mit den russischen Spionen, die als brave Bürger getarnt in Amerika leben?
Lena: Genau.
Lutz: Ich hab mal einen Trailer gesehen. Die russischen Spione werden von Amerikanern gespielt, und da dachte ich, das ist mal wieder Feigheit vor dem Feind. Wieso nehmen sie nicht russische Schauspieler?
Lena: Weil die vielleicht nicht so perfekt Englisch sprächen.
Lutz: In Amerika gibt es doch bestimmt genug zweisprachig aufgewachsene Schauspieler – Kinder russischer Einwanderer.
Lena: Na ja, vielleicht gibt es nicht genug zweisprachig aufgewachsene bekannte Schauspieler. Der männliche Hauptdarsteller ist übrigens noch nicht mal Amerikaner, sondern Waliser.
Lutz: Es ist doch so, dass diese Spione ganz normal in Russland aufgewachsen sind und dann irgendwann in Amerika eingeschleust werden. Wie können die eigentlich so perfekt Englisch gelernt haben, dass man sie nicht an ihrem Akzent erkennt? Das finde ich total unwahrscheinlich.
Lena: Ja, das dachte ich auch. Aber es scheint wohl möglich zu sein. Diese Art von Spionen hat es tatsächlich gegeben. In der Serie wird es so dargestellt, dass diese Leute eine fünfjährige Ausbildung erhalten, bevor sie ihren Posten antreten. Und schon während dieser Zeit sprechen sie untereinander und mit allen Ausbildern nur noch Englisch. Ich glaube schon, dass es möglich ist, einen Akzent ganz und gar auszubügeln, wenn man nur genug daran arbeitet. Und, wie gesagt, der männliche Hauptdarsteller ist Waliser und spricht perfektes Amerikanisch.
Lutz: Wirklich? Wie kannst du das beurteilen?
Lena: Kann ich natürlich nicht. Aber kommt mir so vor.
Lutz: Na ja, ist ja auch egal. Die Serie scheint dir ja sehr zu gefallen.
Lena: Es ist das Brutalste, Widerwärtigste, was ich jemals gesehen habe.
Lutz: Ach!
Lena: Ja. Es ist kaum zu ertragen.
Lutz: Ist es sehr blutig?
Lena: Das auch. Aber es ist vor allem die Selbstverständlichkeit, mit der die Gewalt passiert. Die beiden Protagonisten, Elizabeth und Philip, müssen dauernd irgendwelche Leute einschüchtern, betrügen, erpressen oder umbringen. Und dann gehen sie nach Hause und machen Frühstück für ihre beiden Kinder.
Lutz: Das ist natürlich auch faszinierend – dieses Doppelleben.
Lena: Klar. Davon lebt die Serie. Das ist ja die Grundidee.
Lutz: Im Grunde sind sie wie Superhelden mit einer Geheimidentität.
Lena: Genau. Und sie haben auch Superkräfte. Sie sind natürlich sehr gut ausgebildet – Nahkampf usw. Man hat das Gefühl, sie sind unbesiegbar, unverwundbar. Und zwar auch durch ihre Skrupellosigkeit. Sie denken nicht zweimal drüber nach, bevor sie einen völlig Unbeteiligten erschießen, weil er sie identifizieren könnte. Die Mission ist das Wichtigste.
Lutz: Das heißt, sie sind stärker als Normalsterbliche, weil sie kein Gewissen haben?
Lena: Sozusagen. Sie sind weniger angreifbar dadurch.
Lutz: Also, dann sind die beiden kalte Psychopathen?
Lena: Ja, aber nur während sie im Einsatz sind. Ansonsten sind sie ganz normal empathiebegabt. Sie sind also Serienmörder bei Nacht und nette Familienmenschen bei Tag.
Lutz: Das sind ja viele Serienmörder.
Lena: Ja, aber die meisten Serienmörder sind vielleicht tatsächlich kalte Psychopathen, haben also keine Empathie. Das heißt, sie müssen bei Tag Gefühle vortäuschen, die sie gar nicht haben. Philip und Elizabeth müssen das nicht; sie haben wirklich Gefühle.
Lutz: Wie können sie dann bei Nacht solche Grausamkeiten begehen?
Lena: Das ist genau die Frage! Ich glaube, das ist das, was mich daran so fasziniert. Und die Frage stellt sich nicht nur in eine Richtung. Man fragt sich auch, wie sie umgekehrt nachts solche Grausamkeiten begehen und am Tag wieder Liebe empfinden können.
Lutz: Du meinst, Liebe für ihre Kinder und für einander?
Lena: Ja. Und darum geht es auch. Im Grunde ist das Ganze eine ewig lange, auf sechs Staffeln ausgewalzte Liebesgeschichte. Die beiden sind nämlich am Anfang noch gar kein richtiges Paar.
Lutz: Aber sie sind doch verheiratet und haben Kinder?
Lena: Das gehört alles nur zur Tarnung. Sie sind KGB-Agenten, die während ihrer Ausbildung einander vorgestellt wurden. Und dann hat man sie zusammen nach Amerika eingeschleust mit gefälschten Pässen, Heiratsurkunde und so weiter sowie der Anweisung, möglichst auch Kinder zu zeugen, um die Tarnung perfekt zu machen. In Rückblenden erfährt man, dass Elizabeth gar keine Kinder will und auch nicht verliebt ist in Philip.
Lutz: Und er?
Lena: Er schon eher.
Lutz: Aha!
Lena: Genau. Darin liegt ein großer Teil der Spannung. Philip ist der Weichere von beiden; er mag Elizabeth wirklich, während sie die Beziehung die ersten 16 Jahre lang lediglich als Teil ihres Auftrages betrachtet.
Lutz: 16 Jahre lang? Wie soll denn das gehen?
Lena: Das sehen wir nur in Rückblenden. Die Geschichte beginnt 1981, und die beiden sind 1965 in Amerika angekommen.
Lutz: Und was haben sie in all den Jahren gemacht?
Lena: Zu ihrer Tarnung gehört auch ein gemeinsam geführtes Reisebüro. Aber ansonsten haben sie eben die Kinder großgezogen, die mittlerweile 10 und 14 Jahre alt sind, und sind ihrer Spionagetätigkeit nachgegangen. Aber anscheinend haben sie keine echte Beziehung miteinander geführt. Das ist ein bisschen unglaubwürdig, aber egal.
Lutz: Wie sieht denn ihre Spionagetätigkeit aus?
Lena: Na ja, sie müssen Staatsgeheimnisse stehlen. Dazu verkleiden sie sich mit Perücken, falschen Bärten, Brillen, sogar Hautausschlägen. Sie sprechen anders und verhalten sich anders; sie sind richtig gute Schauspieler. Das macht einen Heidenspaß für die Zuschauer!
Lutz: Aber wie kommen sie denn an die Geheimnisse ran?
Lena: Sie machen sich zum Beispiel an jemanden heran, der Zugang zu solchen Geheimnissen hat, verführen ihn und entlocken ihm so Informationen.
Lutz: Sie verführen Leute?
Lena: In einer Tour! Alle beide - Philip und Elizabeth. Sie gehen ständig mit irgendwelchen Leuten ins Bett und täuschen manchmal auch vor, dass sie verliebt sind. Sie brechen jede Menge Herzen. In einer Rückblende sieht man, dass das Teil ihrer Ausbildung war. Man sieht zum Beispiel den jungen Philip, wie er in einen Raum tritt und auf dem Bett sitzt eine alte Frau und in der nächsten Szene ein dicker Mann und so weiter. Er muss also lernen, mit allen möglichen Leuten Sex zu haben.
Lutz: Gruselig!
Lena: Ja, für dich! Du stellst dir vor, mit einer alten Frau und einem dicken Mann Sex haben zu müssen. Wenn du eine alte Frau oder ein dicker Mann wärst, würdest du vielleicht anders empfinden.
Lutz: Ich will dich mal sehen! Würdest du gerne Sex mit einer alten Frau oder einem dicken Mann haben?
Lena: Du hast natürlich recht; die Szene ist gruselig, weil wir sehen, wie Philip sich überwinden muss.
Lutz: Ja, und es scheint irgendwie ungeheuerlich, dass so etwas zur Ausbildung eines Geheimagenten gehört, der ja ein Staatsdiener ist, sozusagen ein Beamter.
Lena: Genau. Es zeigt, wie tief diese Tätigkeit geht. Es werden eben nicht nur geheime Staatsdokumente mit einer Minikamera in irgendeiner Schreibtischschublade abfotografiert – obwohl es davon auch jede Menge Szenen gibt -, sondern die meisten Geheimnisse werden den Gehirnen von Menschen entlockt, und dazu muss man nicht in ein Büro einbrechen, sondern in die Psyche dieser Menschen. Dafür sind alle Mittel recht, und Sex ist natürlich eine Abkürzung zu den Herzen. Philip treibt das Ganze auf die Spitze mit einer seiner Informantinnen. Das ist eine Sekretärin im Büro der FBI-Abteilung für Spionageabwehr, die er verführt, damit sie ihm eine Wanze im Büro ihres Chefs installiert. Sie verliebt sich richtig in ihn – oder in die Person, die er darstellt. Schließlich heiratet er sie sogar, um ihr Vertrauen vollends zu gewinnen, damit sie auch anfängt, Dokumente für ihn zu fotokopieren. Es ist herzzerreißend, weil wir sehen, wie sehr sie ihm zugetan ist. Er verbringt zwei Abende in der Woche bei ihr, und Elizabeth wird sogar eifersüchtig. Und all das ist nur zur Tarnung. Am Ende fliegt alles auf, und Philip setzt sich dafür ein, dass diese Frau nicht liquidiert, sondern exfiltriert, also nach Russland ausgeflogen wird, wo sie ein neues Leben anfangen muss. Es ist tragisch. Ein Leben komplett zerstört.
Lutz: Warte mal, du sagtest, Elizabeth wird eifersüchtig. Jetzt haben sie und Philip also doch eine echte Beziehung?
Lena: Ja, Elizabeth verliebt sich doch noch in Philip – nach 16 Jahren Ehe. Das passiert eigentlich gleich am Anfang der Serie. In der ersten Folge entführen die beiden einen KGB-Agenten, der überlaufen will. Sie sperren ihn in den Kofferraum ihres Autos und lassen ihn dort – in der Garage ihres schönen Reihenhauses in einem Vorort von Washington D.C. Und, ach ja, gerade ist in das Nachbarhaus ein FBI-Agent eingezogen, der auch noch bei der Spionageabwehr arbeitet.
Lutz: Die Drehbuchschreiber sind ihr Geld wert.
Lena: Ja. Ist natürlich völlig unwahrscheinlich, aber das ist ja das Tolle an Geschichten – man kann sie so aufregend machen wie man will. Jedenfalls haben sie also diesen Agenten in ihrer Gewalt, und wir erfahren aus einer Rückblende, dass dieser Agent früher ein Ausbilder von Elizabeth war und sie vergewaltigt hat.
Lutz: Waas?!
Lena: Genau. Als wir das sehen, wird uns auch klar, warum sie bei der Entführung so brutal mit ihm umgesprungen ist. Und jetzt gibt es eine Szene, wo sie in die Garage geht mit einem großen Küchenmesser.
Lutz: Rache ist Blutwurst!
Lena: Ja. Sie macht den Kofferraum auf und konfrontiert den Agenten mit seiner Schuld. Dieser versucht sich herauszureden, indem er sagt, das sei eben damals so gewesen – er als Offizier habe gewisse ″Privilegien″ mit den jungen Rekrutinnen genossen. Aber bevor Elizabeth ihn abstechen kann, kommt Philip in die Garage.
Lutz: Weiß er von der Vergewaltigung?
Lena: Nein. Außerdem ist er an was ganz anderem interessiert. Der KGB-Agent ist ja ein Überläufer und hat Philip gesagt, er könne auch was für ihn und Elizabeth aushandeln. Als Überläufer würde man 3 Millionen Dollar kriegen und könnte aus dem Dienst aussteigen. Philip ist der Idee nicht abgeneigt. Daran können wir schon sehen, dass er die Nase voll hat von dem Spionagejob.
Lutz: Und Elizabeth?
Lena: Die ist ganz anders. Sie ist viel ideologischer – oder idealistischer – als Philip. Sie sieht sich als russische Agentin und nicht als amerikanische Bürgerin. Deswegen heißt die Serie auch so. Wenn die Agenten untereinander reden – auch wenn sie perfektes Englisch sprechen und seit zwanzig Jahren dort leben usw. -, reden sie immer von ″the Americans″.
Lutz: Die Anderen.
Lena: Genau. Jedenfalls – Philip ist innerlich viel integrierter als Elizabeth. Er mag das Leben in den Staaten, deutet auch mal an, dass das amerikanische Regierungssystem vielleicht ein bisschen demokratischer sei als das russische. Er sagt: ″Wenigstens wird hier der Tod eines Staatsoberhauptes nicht wochenlang verheimlicht.″ Worauf Elizabeth erwidert, dass die amerikanische Regierung aus einem Haufen Verbrecher bestehe, die überall auf der Welt Kriege anzettelten.
Lutz: Kann man so sehen. Hört sich ja richtig politisch an!
Lena: Mach dir keine zu großen Hoffnungen. Viel weiter geht es nicht. Politisch ist das Ganze nicht besonders durchdacht oder auch nur ambitioniert. Es geht mehr um die Figuren.
Lutz: Also gut. Philip kommt in die Garage und hält Elizabeth davon ab, den Agenten zu erstechen.
Lena: Ja. Aber dann fällt eine Bemerkung und Philip wird hellhörig. Als ihm klar wird, dass dieser Mann Elizabeth vergewaltigt hat, sieht er rot und erwürgt ihn. In einer der nächsten Szenen sehen wir dann, wie Elizabeth Sex mit Philip initiiert.
Lutz: Sie hat sich in ihren Rächer verliebt?
Lena: Ja, so ungefähr. Sie hat gesehen, dass Philip sie offenbar wirklich liebt, und irgendwie hat dieser Rachemord ihr Herz geöffnet. Es mag einem pervers vorkommen, aber mir schien es trotzdem nachvollziehbar.
Lutz: Inwiefern?
Lena: Bevor Philip von der Vergewaltigung wusste, bestand der Konflikt zwischen den beiden darin, dass Elizabeth den Agenten (angeblich) wegen seines Überläufertums umbringen wollte, während Philip zumindest mal darüber diskutieren wollte, ob Überlaufen nicht auch eine Option wäre. Elizabeth war natürlich schon aus ideologischen oder gewissermaßen berufsethischen Gründen dagegen und sah sich in ihrem Patriotismus, also in einem großen Teil ihres Wertesystems, von Philip im Stich gelassen. Als er nun den Agenten aus Rache für sie erwürgt, beweist er ihr, dass er ganz und gar auf ihrer Seite ist, denn er zögert keine Sekunde; er handelt im Affekt. Dass er gewissermaßen alles stehen und liegen lässt, um das an ihr begangene Verbrechen zu sühnen, macht deutlich, wie sehr er mit ihr fühlt. Und indem Elizabeth Philips Mitgefühl beobachtet, erlebt sie vielleicht zum ersten Mal überhaupt Mitgefühl für ihren Schmerz, und so kann etwas in ihr heilen.
Lutz: Dass du mal die heilsame Wirkung von Rache propagieren würdest, hätte ich nicht gedacht.
Lena: Ich auch nicht. Aber es ist gar nicht der Racheakt selbst, der Mord, der heilsam wirkt; es ist das Mitgefühl, das Philip für Elizabeths Trauma zeigt. Er hätte dieses Mitgefühl auch anders zeigen können – ohne einen Menschen zu töten.
Lutz: Ja. Die Bestrafung der Täter ist nur eine unter vielen Möglichkeiten, den Opfern zu zeigen, dass ihre Schmerzen anerkannt werden, dass ihre Gefühle wichtig sind. Aber es ist nicht die beste Möglichkeit, weil dabei dem Täter (und vielleicht noch den Menschen, die dem Täter nahe stehen) Schmerz zugefügt wird. Jetzt müsste eigentlich jemand den Schmerz des Täters anerkennen; aber dazu fühlt sich meist niemand berufen. So wird ein Leid geheilt, aber ein weiteres verursacht, welches außerdem niemals eine Chance auf Heilung erhält. So bleibt unterm Strich wieder Leid übrig.
Lena: Brauchen wir nicht weiter drüber reden; ist klar. Diese Serie bemüht sich nicht um einen ganzheitlichen Ansatz. Sie zeigt, was Menschen tun und wie sie damit klar kommen – oder eben nicht klar kommen. Ich hab selten eine Serie oder einen Film gesehen, wo die Protagonisten ständig ″unschuldige″ Menschen umbringen oder sie völlig emotionslos täuschen, mit ihnen schlafen, ihre Karrieren und Beziehungen zerstören und so weiter, um in irgendeinem Büro an ein paar Dokumente heranzukommen. Wenn James Bond das mal macht, dann kommt meist niemand zu Schaden, der nicht auch was auf dem Kerbholz hat. In den meisten Filmen kommen die Helden moralisch sauber aus der Sache heraus. Sie töten fast nie ″Unschuldige″. Hier ist das anders. Und ich bin manchmal nicht sicher, ob die Drehbuchautoren sich darüber klar sind oder nicht. In letzter Zeit sieht man ja immer häufiger Filme, wo die Helden eben auch völlig skrupellos vorgehen. Es wird mehr gefoltert und gemordet – natürlich immer im Dienst der guten Sache. Dass das Konzept von den zweck-geheiligten Mitteln eher fragwürdig ist, kommt den meisten Autoren, glaube ich, gar nicht in den Sinn. Obwohl sie höchstwahrscheinlich selbst nie jemanden umbringen könnten – egal welche Mutter, Tochter oder was weiß ich vergewaltigt wurde. Aber sie denken, dass das in dem Universum, was sie sich vorstellen, durchaus so vor sich geht.
Lutz: Wer weiß, wie viele Leute das tatsächlich denken. Die wenigsten haben schon mal jemanden getötet oder auch nur verprügelt. Aber wenn du die Frage stellst, ob sie jemanden foltern würden, der ihr Kind entführt und irgendwo versteckt hat, sagen viele wahrscheinlich ja. Ob sie das dann in dem Moment tatsächlich könnten, ist noch mal eine andere Frage. Aber in ihrer Vorstellung können sie ihr Tun schon mal moralisch rechtfertigen. Der Zweck heiligt die Mittel, und in diesem Fall ist der Zweck das Kindeswohl, was schwer zu toppen ist.
Lena: Du hast eine Tochter. Würdest du jemanden foltern, wenn er deine Tochter entführt und versteckt hätte?
Lutz: Ich will nein sagen. Aber wenn ich mich tief in diese Situation hineinversetze, bin ich gar nicht so sicher. Ich ertappe mich schon dabei, wie ich über Foltermethoden nachdenke, die keine bleibenden körperlichen Schäden hinterlassen.
Lena: Ja. So ist das bei dieser Serie. Sie zeigt eine Welt, in der dauernd gefoltert und gemordet wird. Es geht selten um das Wohl eines Kindes als ultimativen Zweck, aber Elizabeth glaubt nun mal an die ″Sache″, wobei das natürlich nicht sehr genau definiert ist. Sie wird als Patriotin dargestellt, die für den ″Kommunismus″ und gegen den ″Kapitalismus″ kämpft, was nicht sehr überzeugend ist. Aber sei′s drum. Das ist nun mal der Zweck, der ihre rabiaten Mittel heiligt. Sie ist ja auch in ein System eingebunden; sie ist Teil einer Maschinerie, aus der sie sich nicht einfach von heute auf morgen lösen kann. Es wird auch angedeutet, dass sie durchaus emotional involviert ist. Sie wurde mit 17 Jahren vom KGB rekrutiert, und diese Laufbahn hat ihre Zukunft und auch die Zukunft ihrer alleinstehenden, kranken Mutter gesichert. Der KGB-Chef, der für ihre Ausbildung verantwortlich war, wird als wohlwollende Vaterfigur gezeichnet, dem Elizabeth sehr zugetan ist. Sie tut, was sie tut, auch für ihn, nicht nur für eine abstrakte Idee, eine Ideologie.
Lutz: Und Philip?
Lena: Er bekommt langsam Zweifel an der moralischen Rechtfertigung. Zum Beispiel muss er sich an die 15-jährige Tochter eines CIA-Agenten heranmachen, um in dessen Büro eine Wanze zu installieren und auch regelmäßig auszutauschen. (Bedenke, das Ganze spielt in den 1980er Jahren und die Technologie ist noch weitestgehend analog.) Jedenfalls wird natürlich von ihm erwartet, dass er dieses Mädchen verführt, um eben regelmäßig Zutritt zu ihrem Haus und damit zum Büro ihres Vaters zu haben. Philip ist Anfang Vierzig und hat eine Tochter im selben Alter. Deshalb bringt er es nicht übers Herz und versucht, die Beziehung platonisch zu halten, obwohl das Mädchen ihrerseits in ihn verliebt ist und auch mit ihm schlafen will.
Lutz: Das ist ja ganz schön krass für eine amerikanische Serie.
Lena: Ja, hat mich auch überrascht. Am Ende schläft er trotz allem sogar doch noch mit ihr.
Lutz: Warum das denn? Ich dachte, er will und kann das nicht, weil sie ihn an seine Tochter erinnert.
Lena: Er denkt, er muss es tun, um seine Mission zu erfüllen. Sein Auftrag besteht darin, sie nach Griechenland zu locken, wo sie entführt werden soll, um den Vater zu erpressen. Sie hat aber eigentlich keine Lust, nach Griechenland zu fahren, und so verführt er sie, damit sie ihre Meinung ändert. Es ist wie ein Automatismus. Er hat gelernt, die Leute zu manipulieren, um sie gefügig zu machen. Er tut das auch hier, obwohl er eigentlich nicht will.
Lutz: Wahrscheinlich sieht man nicht, wie er mit ihr schläft, oder?
Lena: Doch, doch! Man sieht es; und man sieht, wie er sich vor sich selbst ekelt. Die Szene ist ziemlich unerträglich.
Lutz: Krass. Sehr ungewöhnlich. Die Frage ist, wie leben diese Leute mit solchen Taten auf dem Gewissen.
Lena: Genau das ist die Frage. In diesem speziellen Fall rettet Philip das Mädchen am Ende, indem er sie erstens nie wieder trifft und sie zweitens noch telefonisch davor warnt, nach Griechenland zu fahren. Aber dass er mit ihr geschlafen hat und sich dabei wahrscheinlich vorkam wie bei einem Inzest, bleibt ihm natürlich. Andererseits gab es zwischen den beiden auch eine echte Beziehung. Sie sehen sich regelmäßig, und zunächst ist sie ihn verliebt, aber dann wird er so etwas wie ein väterlicher Freund für sie. Und das stimmt ja; er hat tatsächlich väterliche Gefühle für sie. Natürlich sind alle Äußerlichkeiten eine Lüge – sein Beruf, seine Geschichte, sein Aussehen.
Lutz: Er ist verkleidet – mit Perücke und so?
Lena: Na klar! Perücke, Brille, Sprechweise - alles. Sie verkleiden sich immer. Wie gesagt, darin liegt ein großer Reiz für die Zuschauer. Jedenfalls sind also diese Äußerlichkeiten alle gelogen, aber im Kern gibt es trotzdem eine wahrhaftige Beziehung. Das finde ich ganz interessant, weil man anfängt, darüber nachzudenken, worin eigentlich die ″Wahrhaftigkeit″ von Beziehungen besteht. Elizabeth und Philip spielen den meisten Menschen etwas vor. Es fängt ja schon damit an, dass sie gar nicht Elizabeth und Philip heißen, sondern Nadjeschda und Mischa, dass sie eigentlich Russen sind, dass ihr Beruf, ihre Ehe nur Tarnung sind und so weiter. Aber sie sprechen perfektes Amerikanisch, sie leben in Amerika, sie führen ein echtes Reisebüro, und eine echte Ehe mit echten Kindern. Und wenn sie mit ihren Informanten Beziehungen aufbauen, dann sind auch echte Gefühle im Spiel. Die Frage ist, wo fängt die Lüge an oder wo hört die Wahrheit auf.
Lutz: Vielleicht sind sie in jedem einzelnen Moment wahrhaftig. Im Grunde ist das ja eine Schauspielmethode. Je besser man sich in die Situation hineinversetzt, je mehr man daran glaubt, dass man etwas Bestimmtes gerade tatsächlich erlebt, desto überzeugender kann man auf der Bühne spielen. Wenn ich mir etwas vorstelle, wird es in diesem Moment wahr für mich; mein Gehirn kann doch kaum zwischen Realität und Vorstellung unterscheiden, vor allem, wenn ich die Augen schließe, wenn also die Außenwelt keinen Input mehr geben kann. Deshalb sind Träume komplett überzeugend. Wenn ich träume, weiß ich nicht, dass ich träume.
Lena: Genau! Und Philip und Elizabeth lernen in ihrer Ausbildung, ihre Gefühle zu benutzen. Sie lernen, Gefühle vorzutäuschen, wahrscheinlich indem sie diese Gefühle in sich wirklich generieren. Was sie aber auch lernen, ist, diese Gefühle bei Bedarf auch wieder abzuschalten, um dann einen Menschen, mit dem sie eben noch Sex hatten und in den sie quasi verliebt waren, umbringen zu können, wenn es die Mission erfordert. Da stellt sich mir schon die Frage, wie ″echt″ unsere Gefühle eigentlich sind. Es gibt ja genug Leute, die zum Beispiel mit mehreren Personen regelmäßig intime Beziehungen pflegen. Das wird offiziell als ″Betrug″ deklariert. Aber ist das so? Der fremdgehende Ehemann liebt seine Ehefrau vielleicht tatsächlich, wenn er mit ihr zusammen ist, und liebt die Mätresse genauso, wenn er mit dieser zusammen ist. Ein Problem gäbe es nur, wenn beide gleichzeitig im selben Raum wären.
Lutz: Wie geht es denn nun weiter mit Elizabeth und Philip? Du sagtest, im Grunde sei das Ganze eine Liebesgeschichte.
Lena: Die Serie geht über sechs Staffeln und hat etwa 75 Folgen. Es ist ein wahres Epos und erstreckt sich über sieben Jahre, glaube ich. Natürlich gibt es einen Haufen Nebenstränge mit jeder Menge wichtiger Figuren. Übrigens werden alle russischen Spione, die nicht als Amerikaner getarnt leben, tatsächlich von russischen Schauspielern dargestellt. Und es wird auch dauernd Russisch gesprochen.
Lutz: Ja, wahrscheinlich hier und da mal ein Satz.
Lena: Nein, nein! Ellenlange Szenen, die entweder in Russland oder in der russischen Botschaft in Washington spielen, sind komplett auf Russisch mit englischen Untertiteln.
Lutz: Das ist sehr ungewöhnlich für eine amerikanische Serie.
Lena: Absolut. Es ist schon toll, muss ich sagen.
Lutz: Was ist mit Elizabeth und Philip? Sprechen die jemals russisch?
Lena: Nein, die nicht. Ganz selten mal in einer Rückblende sagen sie einen Satz, von dem ich hoffe, dass ein Sprachcoach ihnen den gut eingetrichtert hat, aber kann ich natürlich nicht beurteilen. Die beiden haben auch niemals russisch miteinander gesprochen; das gehörte wie gesagt zur Ausbildung. Und in Amerika werden sie den Teufel tun und das Risiko eingehen, dass man sie dabei erwischt, wie sie russisch reden. Weil Elizabeth sich in Philip verliebt hat, erzählt sie ihm abends im Bett von ihrem Leben vor ihrer KGB-Rekrutierung, von ihrer Kindheit in den schweren Nachkriegszeiten, ihrer kranken Mutter, und sie sagt ihm ihren echten Namen – Nadjeschda. Aber auch in dieser Szene sprechen sie kein Russisch – außer dass sie den Namen russisch korrekt ausspricht. Klang zumindest so. Jedenfalls – um auf deine Frage zurückzukommen - lebt die Serie sehr stark von der Dynamik zwischen den beiden. Und es geht ewig hin- und her. Einmal streiten sie sich so sehr, dass Philip sogar auszieht. Das geht über eine ganze Staffel, und man bangt die ganze Zeit, dass sie wieder zusammenkommen.
Lutz: Aber ist das nicht verboten? Wenn sie sie sich trennen, gefährdet das doch ihre Tarnung.
Lena: Philip sagt, das wäre vielleicht in den 1960ern noch so gewesen, aber sie hätten ja nun mittlerweile 1981, und da seien Trennungen Teil des normalen amerikanischen Lebens.
Lutz: Stimmt auch wieder. Und kommen sie wieder zusammen?
Lena: Natürlich! Aber es zieht sich, wie gesagt. Sie trennen sich übrigens, gerade weil Elizabeth sich in Philip verliebt hat. Sie fühlt sich nämlich von ihm verraten, weil er bei einer Mission seine Exfreundin aus Russland, die auch für den KGB arbeitet, wiedertrifft und mit ihr schläft.
Lutz: Oh nein! Hat er etwa gebeichtet?
Lena: Nein. Sie fragt ihn zwar, aber er verneint.
Lutz: Ist doch klug, oder? Das ist etwas zwischen ihm und seiner Exfreundin und hat wahrscheinlich überhaupt keinen Einfluss auf seine Beziehung mit Elizabeth.
Lena: Finde ich auch. Die beiden treffen sich nach 18 Jahren wieder; da kann Sex zur Kommunikation gehören. Es ist auch nicht anders, als wenn sie nur miteinander sprächen.
Lutz: Die Wahrhaftigkeit des Moments.
Lena: Genau. Aber Elizabeth wird stinksauer. Sie kommt über diesen gefühlten Verrat nicht hinweg.
Lutz: Kann man ja auch verstehen. Sie hat gerade erst ihr Herz geöffnet, nachdem sie sich so lange nicht getraut hatte.
Lena: Eben. Und Philip hat eigentlich alles richtig gemacht. Aber er hat den KGB unterschätzt. Da weiß man natürlich von seinem Fehltritt, und es ist die KGB-Verbindungsfrau, die für Elizabeth und Philip zuständig ist, die Elizabeth davon erzählt.
Lutz: Wie kommen sie denn nun wieder zusammen?
Lena: Elizabeth gerät in Gefahr, und Philip lässt mal wieder alles stehen und liegen, bricht die Mission ab, missachtet die Befehle seiner Vorgesetzten und eilt zur Rettung. Elizabeth wird angeschossen, und er kümmert sich um sie, bringt sie zu einem Arzt und so weiter. Die Szene und damit die erste Staffel endet mit Elizabeth auf dem Krankenlager, an dem Philip die ganze Nacht gewacht hat, und wie sie zu ihm auf Russisch sagt: ″Komm nach Hause.″
Lutz: Schnief!
Lena: Ich sag′s dir! Ich hab geheult wie ein Schlosshund.
Lutz: Du?
Lena: Ja klar, ich!
Lutz: Ich wusste gar nicht, dass du bei Filmen weinst. Ich wusste nicht, dass du überhaupt weinst.
Lena: Du musst ja nicht alles wissen. Deshalb schaue ich Filme auch lieber allein. Bei dieser Serie heule ich jedenfalls ziemlich viel.
Lutz: Vielleicht brauchst du die ganze Gewalt und unsägliche Grausamkeit, damit die Romantik bei dir ankommt?
Lena: Hm.
Lutz: ′tschuldigung! War nur ein Witz!
Lena: Nein, nein. Warum denn nicht? Könnte doch sein. Ich überlege nur, ob das stimmt. Aber ich glaube eigentlich nicht, dass sich die Gewalt und die Romantik bedingen. Ich meine, man muss das eine nicht erst haben, um das andere zu spüren. Aber es stimmt schon, dass sich Gewalt und Zärtlichkeit ständig abwechseln. Und zwar nicht nur körperlich, auch verbal. Es geht im Grunde die ganze Zeit darum, wie Menschen sich gegenseitig verletzen, weil sie gerade nur mit sich selbst beschäftigt sind und deshalb nicht empathisch sein können. Zum Beispiel gibt es eine Szene, wo Philip seinen 11-jährigen Sohn, dem er sonst sehr zugewandt ist, ignoriert, als der ihm einen Kartentrick zeigen will. Er reagiert unwirsch, und wenn man sich in dem Moment in den Sohn hineinversetzt, ist es absolut herzzerreißend. Aber wir wissen auch, dass Philip verstört ist, weil er gerade von einer Mission zurückgekehrt ist, bei der er zwei Menschen töten musste, was er um jeden Preis hatte verhindern wollen. Der Sohn zeigt nun den Trick seiner Schwester, die ihn beim Falschmischen erwischt und ausruft: ″Du betrügst!″ Ihr Bruder erwidert: ″Das ist kein Betrügen, sondern Zauberei!″ Als Philip das hört, wird er richtig grantig und schnauzt seinen Sohn an: ″Das reicht jetzt!″ Dazu muss man wissen, dass der Sohn einige Tage zuvor sich ins Haus der Nachbarn geschlichen hat, um dort mit der Spielkonsole (die seine Eltern ihm nicht kaufen wollen) zu spielen, und erwischt wurde. Bei der Standpauke mit seinen Eltern beteuert er immer wieder: ″Ich bin ein guter Mensch, wirklich! Ich kenne den Unterschied zwischen richtig und falsch, zwischen Gut und Böse! Ich bin kein schlechter Mensch!″ Philip und Elizabeth sind konsterniert und können darauf nichts erwidern. Sie machen sich tatsächlich Sorgen, dass ihr Kind keinen funktionierenden moralischen Kompass hat!
Lutz: Bei dem, was sie nachts so treiben, ist das natürlich sehr ironisch.
Lena: Ja. Oder ich habe die Szene falsch interpretiert, und sie machen sich Sorgen um ihren eigenen moralischen Kompass – zumindest Philip. Deswegen schnauzt er seinen Sohn auch wegen des Kartentricks an. Oder jedenfalls haben das die Drehbuchschreiber so konstruiert. Philip ist immer noch besorgt um den moralischen Kompass – den seines Sohnes oder vielleicht auch seinen eigenen – und das ″Betrügen″ bei einem Kartentrick löst diese heftige Reaktion aus.
Lutz: Klingt tatsächlich etwas konstruiert. Das ist schon ein bisschen weltfremd, bei einem Kartentrick von Betrug zu sprechen.
Lena: Stimmt. Aber es funktioniert trotzdem, weil wir sehen, wie Philip wegen seiner eigenen Probleme zu einem momentan herzlosen Vater wird, und weil es die Frage des moralischen Kompasses aufwirft, was eines der wichtigsten Themen der Serie ist. Man fragt sich als Zuschauer die ganze Zeit: Wann merken die endlich mal, dass es einfach nicht richtig ist, Leute auszunutzen, zu täuschen und zu ermorden?
Lutz: Ja, und seine Kinder anschreien geht eigentlich auch nicht.
Lena: Genau, genau! Und trotzdem passiert das doch allen Eltern mal. Da kann man ja auch nicht gleich sagen, dass deren moralischer Kompass kaputt ist.
Lutz: In der idealen Welt schreit natürlich niemand seine Kinder an und bringt auch niemanden um. Aber wenn es in der normalen Welt passiert, gibt es vielleicht gute Gründe.
Lena: Ja. Ich für meinen Teil kann behaupten, dass ich niemals jemanden töten werde, aber stimmt das? Es stimmt vielleicht jetzt - in diesem Moment, da ich das behaupte. Aber was ist, wenn meine Situation eine ganz andere ist, wenn zum Beispiel Krieg ist?
Lutz: ″Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin!″
Lena: Den Spruch habe ich auch immer geliebt! Er klingt so einfach. Aber das täuscht. Die Wahrheit ist, dass jeder Einzelne die Entscheidung treffen muss, nicht hinzugehen, und das sind bei der Anzahl der Weltbevölkerung eine ganze Menge Entscheidungen, die alle gleich ausfallen müssen. Und wie wahrscheinlich ist das?
Lutz: Nicht sehr wahrscheinlich.
Lena: Eben.
Lutz: Ich glaube, die Kraft des Spruchs liegt in dem Anfang des Satzes - ″Stell dir vor...″. Es geht darum, sich diese Welt so vorzustellen, als würde niemand in den Krieg ziehen. Es ist eine Utopie. Aber wir brauchen Utopien, um die Welt zu verändern. Weißt du noch – das Buch von Rutger Bregman?
Lena: Ja, klar. Und hier ist es Philip, der die ganze Zeit krampfhaft versucht, sich eine Welt ohne Gewalt vorzustellen. Aber er ist ganz allein; die Welt macht munter weiter mit der Gewalt. Er muss sich sogar manchmal gegen seine geliebte Elizabeth stellen, weil sie eine andere Meinung vertritt. Das bringt er natürlich meistens nicht übers Herz, und so begeht er einen Haufen Morde eigentlich nur, um Elizabeth nicht zu verlieren.
Lutz: Er mordet aus Liebe.
Lena: Sozusagen. Mal direkt – wie im Fall des Mordes an dem Vergewaltiger – und mal indirekt, wenn er einfach seinen Job weitermacht, weil er Elizabeth nicht im Stich lassen will.
Lutz: Du meinst, er könnte ja auch allein überlaufen und sie zurücklassen?
Lena: Genau. Aber das will er nicht. Er fühlt sich ihr zu sehr verbunden.
Lutz: Er fühlt sich ihr mehr verbunden als den Leuten, die er ermordet.
Lena: So ist es. Ihr und den Kindern. Hast du ja vorhin gesagt: Wenn in der normalen, nicht idealen Welt Morde passieren, dann gibt es gute Gründe.
Lutz: Und jemand wie Philip weiß das vielleicht besser als wir, die wir noch nie jemanden getötet haben.
Lena: Ja. Wenn er Zweifel bekommt an der Funktionstüchtigkeit seines moralischen Kompasses, dann bedeutet das viel; wenn er plötzlich sagt, er geht nicht mehr hin zum Krieg, dann haben wir wirklich einen Krieger weniger.
Lutz: Und er kennt beide Seiten. Er weiß, aus welchen Gründen er tötet, und er weiß auch, warum er nicht mehr töten will.
Lena: Na ja, das weiß er eben nicht so genau. Seine Empathie funkt ihm einfach dazwischen. Er will nicht, dass die Sekretärin liquidiert wird; er ist zwar nicht in sie verliebt, aber er hat viel Zeit mit ihr verbracht und mag und schätzt sie.
Lutz: Das ist ja eigentlich ganz normal. Die Frage ist doch viel eher: Wieso schaffen es die anderen Agenten, zum Beispiel auch Elizabeth, ihre Empathie auszuschalten?
Lena: Ich glaube, die Empathie wird nicht ausgeschaltet; sie wird nur umgeleitet. Elizabeth begeht ihre Morde, weil sie an ihren Auftrag, an die ″Sache″ denkt, die für sie ja durchaus auch sehr emotional besetzt ist. Erstens, wie gesagt, arbeitet sie für ihren väterlichen KGB-Mentor, zweitens für ihre Mutter, die in Russland vom KGB versorgt wird, und drittens in gewisser Weise auch für ihre Kinder, denen sie eine bessere Welt hinterlassen will, für die sie sich als Kämpferin sieht.
Lutz: Das ist sehr interessant. Daran kann man sehen, aus welch fadenscheinigem Material unsere Persönlichkeit gemacht ist. Entscheidungen über Leben und Tod hängen ab von ein paar alten Gefühlen und Ideen – in diesem Fall von Elizabeths Gefühlen für ihren ehemaligen Mentor in Russland, den sie wahrscheinlich seit Jahren nicht gesehen hat, und von dem Gefühl zu ihrer Mutter, die sie auch schon ewig nicht gesehen hat, sowie einer abstrakten Idee von Mütterchen Russland und ihren kommunistischen Idealen.
Lena: Nun ja, du sagst ″alte″ Gefühle; aber ich glaube nicht, dass Gefühle altern können. Wenn wir uns in alte Gefühle hineinversetzen, dann sind sie genau so lebendig wie eh und je.
Lutz: Ja, stimmt. Ich meinte vielleicht eher, dass die Gefühle – und damit die Beweggründe für unsere Taten – nicht unbedingt etwas mit der Gegenwart zu tun haben müssen, was also bedeutet, dass sie auch nichts mit diesen Taten zu tun haben müssen. Motiv und Tat müssen also nicht in einem zeitlich gemeinsamen Kontext stehen. Und was du über unsere Fähigkeit sagtest, dass wir uns in unsere alten Gefühle jederzeit hineinversetzen können, macht die Sache noch bedenklicher. Denn das heißt, dass wir im Grunde alle Nase lang unsere Persönlichkeit wechseln können und dass unser Handeln eben nicht von einem allgemein und zeitlich einheitlich gültigen Moralkompass gelenkt wird, sondern von dem, was uns gerade zufällig durch den Kopf geht bzw. ans Herz rührt.
Lena: Du hast völlig recht, glaube ich. Deswegen kann diese Liebesgeschichte auch über sechs Staffeln ausgewalzt werden. Deshalb können sich die beiden in einer Folge furchtbare Sachen an den Kopf werfen und fünf Folgen später wieder verliebt im Bett liegen.
Lutz: Das klingt ja wie im richtigen Leben.
Lena: Absolut! Was heißt denn schon Verliebtsein? Es ist ein momentaner Zustand. Ich kann heute in jemanden verliebt sein und morgen finde ich die Person total blöd, weil sie zum Beispiel eine politische Meinung vertritt, mit der ich nicht einverstanden bin.
Lutz: Wobei du ja genau das als Philips Problem beschrieben hast: Er ist nicht einverstanden mit Elizabeths politischer Überzeugung, aber er liebt sie trotzdem.
Lena: Ja, aber sie streiten sich oft. Und in diesen Streits sind sie verbal sehr gewalttätig. Sie reden manchmal auf eine Weise miteinander, dass man sich fragt, wie sie sich jemals wieder in die Augen schauen können. Aber vielleicht liegt das auch an den Drehbuchschreibern, die zu grobklotzig an die Sache herangehen.
Lutz: Ich kenne das aus Beziehungen. Man verliert manchmal wirklich die Contenance – vielleicht gerade, weil man sich so nah ist. Und vielleicht findet man deswegen auch wieder zusammen. Aber während eines Streits hat man tatsächlich keinerlei zärtlichen Gefühle für die andere Person, und das ist schon erstaunlich. Die ″Liebe″ ist komplett abgeschaltet – so als ob sie nie existiert hätte.
Lena: Ja, und an die Stelle der Liebe tritt plötzlich Hass oder zumindest völlige Empathielosigkeit, jedenfalls der gerade anwesenden Person gegenüber. Die Empathie ist absorbiert für einen selbst oder für andere, gerade nicht anwesende Personen.
Lutz: Die Empathie ist ein Fähnchen im Wind.
Lena: Genau. Sie ist total opportunistisch.
Lutz: Schlimmer als ein korrupter Politiker!
Lena: Die Frage ist: Nach welchem Wind richtet sich dieses Fähnchen eigentlich?
Lutz: Na, es richtet sich nach dem stärker wehenden Wind. Und der ist vielleicht oft nicht vorhersagbar. Außer natürlich dem Wind des eigenen Kindeswohls. Der mag konstant stark blasen. Für die meisten Leute wahrscheinlich in Orkanstärke.
Lena: Genau. Aber die anderen Winde sind oft ähnlich stark oder schwach, und dann ist die Frage, wohin das Fähnchen sich dreht. So zum Beispiel der Wind von Philips Liebe und Loyalität zu Elizabeth aus der einen Richtung und der Wind seines Moralkompasses aus der anderen.
Lutz: Aber kann man hierbei wirklich von zwei Winden der Empathie sprechen? Die Liebe zu Elizabeth könnte auch als eine selbstsüchtige Angst interpretiert werden. Er macht mit seinem Mordjob weiter, um sie nicht zu verlieren; er will nicht allein sein. Und andererseits könnte man den moralischen Kompass als eine abstrakte Idee auffassen. ″Du sollst nicht töten″ - das sind vielleicht nur leere Worte – schlimmer noch: ein Befehl, dessen schlüssige Begründung man vermisst, wenn es so viele Gründe gibt, die im Moment für den Mord sprechen.
Lena: Wenn Philip Angst hat, Elizabeth zu verlieren, ist er auch empathisch, nur eben empathisch mit sich selbst. Und seine Weigerung, manche Leute umzubringen, beruht durchaus auf Empathie; er will nicht töten - nicht weil er irgendwo das Gebot „Du sollst nicht töten“ gelesen hat, sondern weil er sich mit diesen Menschen identifiziert, weil er weiß, dass er selbst auch nicht getötet werden will. Er befolgt sozusagen die goldene Regel: Behandele alle Menschen so, wie du selbst behandelt werden willst.
Lutz: Okay. Also, in uns wird eigentlich alles in irgendein Gefühl umgewandelt – auch abstrakte Ideen.
Lena: Ja, genau. Die Vorstellung, dass wir „rational“ handeln, können wir, glaube ich, vergessen. Ideen können aber unsere Gefühle beeinflussen. So kann die Vernunft doch unser Handeln bestimmen, aber nur indirekt. Wir haben ein Gefühl und würden danach handeln, dann aber kommt uns eine Idee in den Sinn, und diese Idee kann, wenn sie stark genug in uns resoniert, unser Gefühl verändern. Und dann handeln wir nach diesem neuen Gefühl.
Lutz: Um also auf die Frage zurückzukommen, nach welchem Wind die Empathie sich dreht, muss man sagen, nach dem Wind, der stärkere Gefühle auslöst.
Lena: Ja, und das ist natürlich, wie du schon sagtest, ein Problem, weil Gefühle zu einem großen Teil situativ bedingt sind. Weswegen mir die goldene Regel noch als beste Option erscheint, denn sie nimmt die eigenen Bedürfnisse als Maßstab, einen Maßstab also, den man in den meisten Situationen dabei hat.
Lutz: Wobei man nicht immer sagen kann, dass die eigenen Bedürfnisse denen der anderen entsprechen.
Lena: Wenn wir von Grundbedürfnissen ausgehen, eigentlich schon. Alle Lebewesen wollen leben, essen, trinken, schlafen, brauchen Schutz, Zärtlichkeit, Ruhe und Gemeinschaft.
Lutz: Dann wird es problematisch, wenn zwei Leute da sind, aber nur eine Scheibe Brot, wenn also die Ressourcen zur Erfüllung der Grundbedürfnisse nur für einen reichen.
Lena: Ja, wenn man es so zuspitzt, kommt man an die Grenzen des theoretisch Auslotbaren. Das muss man dann im konkreten Fall entscheiden. Wenn wir zwei nur noch eine Scheibe Brot hätten, würden wir schon eine Lösung finden.
Lutz: Glaube ich auch. Ich würde dir die Brotscheibe überlassen und dafür die Tiefkühlpizza nehmen, die noch im Eisfach liegt. Aber sag mal, was gefällt dir so an dieser Serie, dass du seit Tagen nicht davon wegkommst?
Lena: Zunächst mal ist sie unglaublich spannend und aufregend. Die Autoren geben sich wirklich alle Mühe.
Lutz: Ja, der FBI-Agent, der nebenan wohnt...
Lena: Genau. Der schöpft gleich mal Verdacht und bricht in die Garage ein, um den Kofferraum zu untersuchen, in dem der KGB-Überläufer war. Zu dem Zeitpunkt sind schon alle Spuren beseitigt, aber Philip steht in einer schattigen Ecke mit entsicherter Pistole. Die beiden freunden sich dann an, und der FBI-Agent betrachtet Philip irgendwann als seinen besten Freund, dem er von seinen Eheproblemen erzählt und so weiter, und muss am Ende feststellen, dass sein anfänglicher Verdacht tatsächlich ins Schwarze getroffen hat und er es hier mit zwei KGB-Agenten zu tun hat. Dann gibt es eine haarsträubende Folge, wo Philip und Elizabeth von FBI-Agenten gefangengenommen und ziemlich rabiat verhört werden; sie sind also anscheinend aufgeflogen. Am Ende stellt sich heraus, dass das Ganze eine KGB-Loyalitäts-Prüfung war. Aber bis das rauskommt, schwitzt man Blut und Wasser. In einer anderen Folge wird eine Frau ermordet, die für Philip als Spitzel gearbeitet hat. Die Leiche muss entsorgt werden, und wir sehen in allen Details, wie Philip und Elizabeth dem nackten Körper die Knochen brechen, um ihn zusammengefaltet in einen Rollkoffer stopfen zu können.
Lutz: Und das findest du „aufregend und spannend“?
Lena: Es ist ja kein Tarantino-Film, wo die Gewalt als Nervenkitzel dient. Es geht hier genau um die Ungeheuerlichkeit dieses Vorganges. Einerseits ist es eine praktische Methode der Leichentsorgung, und andererseits ist es eine traumatische Erfahrung für Philip, der später einmal, als es darum geht, ob die Kinder von KGB-Agenten vielleicht auch in den Dienst genommen werden könnten, sagt, dass er nicht will, dass seine Tochter einmal eine Leiche in einen Koffer falten muss. Aber das ist es nicht allein. Die Geschichte nimmt mich emotional sehr mit. Dadurch dass Elizabeth und Philip erst aufeinander zukommen und sich dann wieder voneinander entfernen, und das im ständigen Wechsel...
Lutz: … der Wechsel von Zärtlichkeit und Gewalt.
Lena: Genau. Sie verlieben sich sozusagen immer wieder neu ineinander. Und einmal ist sie nur in ihn verliebt und ein andermal ist es umgekehrt. Wir können beobachten, wie es zu diesen Gefühlen kommt. Manchmal sind es äußere Umstände, die sie zusammenschweißen, zum Beispiel eine besonders gefährliche Mission, und manchmal ist es eine psychische Veränderung oder eine Entscheidung, zum Beispiel, wenn Philip nach einer siebenmonatigen persönlichen Auszeit seinen Dienst doch wieder antritt, weil er sieht, wie Elizabeth unter der Belastung allein fast zusammenbricht. Er hat sich wohl gefühlt, nur noch das Reisebüro zu führen und niemand mehr ermorden zu müssen, aber er entscheidet sich dafür, Elizabeth zur Seite zu stehen. Sie weiß, welches Opfer er bringt, und ist ihm sehr dankbar. Das ist also ein Moment, da die beiden sich wieder aufeinander zubewegen. Das Ganze ist wirklich ein sehr gut und realistisch konstruiertes Ehedrama. Es zeigt, wie Gefühle zufällig entstehen und vergehen, aber auch, wie man sie hegen und pflegen und manchmal eben auch manipulieren kann. Meine Lieblingsszene ist in der Folge, wo Philip die 15-jährige Tochter des CIA-Agenten aufgabelt, mit ihr Hasch raucht und im Arbeitszimmer ihres Vaters herumschnüffelt. Es ist deutlich, dass er es vermeiden will, mit ihr zu schlafen, was ihm in dieser Folge auch gelingt. Aber er denkt viel daran und in der letzten Szene kommt er nach Hause zu Elizabeth ins Schlafzimmer. Er ist ein bisschen bekifft und müde und sitzt auf der Bettkante und fragt sie, ob sie manchmal an ihre Ausbildungszeit zurückdenke, während derer sie gelernt haben, mit allen möglichen Leuten zu schlafen. Elizabeth verneint. Aber sie liegt auf der Seite im Bett und ist ihm sehr zugewandt – was sie oft nicht ist; sie ist meistens ziemlich kühl. In einer Rückblende sehen wir nun die Szenen, wie Philip mit einer alten Frau, einer sehr jungen Frau und einem Mann im mittleren Alter Sex hat. Er erinnert sich auch daran, was man ihnen in der Ausbildung immer wieder gesagt hat: „You have to make it real for yourself.“ Elizabeth fragt ihn, ob er es so mit seiner FBI-Sekretärin mache. Er bejaht seufzend. Dann fragt sie ihn, wie es mit der CIA-Tochter läuft, und er sagt, dass sie ihm leid tue und dass er noch nicht mit geschlafen habe. Dann fragt er sie, ob er das tun solle. Elizabeth antwortet, dass sie das nicht wisse. Er sagt, dass er die Frage ernst meine und wirklich von ihr wissen wolle, was sie dazu meint. Elizabeth sagt, dass sie es wirklich nicht wisse. Und auch das ist sehr ungewöhnlich für Elizabeth, die ja sonst so sicher ist in ihren Ansichten. Im Zweifelsfall pocht sie darauf, dass die Mission das Wichtigste ist, aber in dieser Frage ist sie unsicher und gibt vor allem ihre Unsicherheit zu. Auch deshalb ist das eine sehr zärtliche Szene; beide zeigen sich in ihrer Verletzlichkeit und Unsicherheit. Philip liegt mittlerweile auch im Bett sehr nah neben Elizabeth auf der Seite, ihr zugewandt. Er streicht ihr mit der Hand über die Wange. Und jetzt kommt's. Sie fragt ihn: „Do you have to make it real with me?“
Lutz: Ah! Sie will wissen, ob er sie wirklich liebt!
Lena: Sozusagen. Und das ist natürlich herzzerreißend, weil wir – und Elizabeth auch – ja eigentlich wissen, wie sehr Philip ihr zugetan ist. Aber ihre Frage zeigt, wie unsicher sie im Grunde ist. Wir verstehen, dass sie emotional vielleicht noch gar nicht so erwachsen ist, dass ihr Herz lange Zeit verschlossen war und sich erst in letzter Zeit ein wenig öffnen konnte. Gleichzeitig weiß sie natürlich genau, wovon die Rede ist; sie benutzt ja die gleiche Technik wie Philip. Es ist also durchaus eine berechtigte Frage, die sie stellt, und außerdem wirkt sie sehr integrativ.
Lutz: Was meinst du?
Lena: Ja, „integrativ“ ist ein komisches Wort. Ich meine, dass in diesem Moment, in dieser Frage, verschiedene psychische Ebenen zusammengeführt werden. Philip und Elizabeth sind einerseits KGB-Agenten, die gelernt haben, Gefühle in sich zu kreieren, die sie vielleicht gar nicht haben oder gar nicht haben wollen, und andererseits sind sie über die Jahre auch Freunde und in letzter Zeit sogar Liebhaber geworden. Und in diesem Augenblick wird das eine in das andere integriert. Die Möglichkeit der Täuschung wird angesprochen, die Möglichkeit, dass ihre spezielle Ausbildung vielleicht auch ungewollt einen Effekt auf ihre Beziehung haben könnte.
Lutz: Ich glaube, ich verstehe. Indem diese Möglichkeit ausgesprochen wird, begegnen sich die beiden auf einer höheren Stufe von Aufrichtigkeit.
Lena: Ja, genau. Sie sind offener miteinander und sich dadurch näher.
Lutz: Was ist denn Philips Antwort?
Lena: Das ist das Allerbeste! Er sagt: „Sometimes. Not now.“ Dann küssen sie sich zärtlich.
Lutz: Das ist stark. Er ist ganz ehrlich.
Lena: Genau! Das hat mich wirklich umgehauen. Das ist so, als würde man auf die Frage „Liebst du mich“ antworten: „Nicht immer. Im Moment aber schon.“
Lutz: Und das stimmt ja auch. Liebe ist – wie alle Gefühle – ein Phänomen des Augenblicks.
Lena: Ja, aber es bedeutet auch, dass man ein Gefühl, wenn man will, in sich kreieren kann. Und das ist für eine Beziehung vielleicht gar nicht so schlecht.
Lutz: „Fake it till you make it“?
Lena [lacht]: Ja, so ähnlich!
Lutz: Mann, das Gerede von der Liebe hat mich hungrig gemacht. Sollen wir was essen?
Lena: Ja, mich auch. Du kannst die Brotscheibe haben; ich nehme die Tiefkühlpizza.
Kommentar 1
15.07.2020
WAS LIEST DU GERADE? - Étienne de La Boétie: ″Von der freiwilligen Knechtschaft″
Lena: Was liest du da?
Lutz: Étienne de La… [reicht ihr das Buch] Ich weiß nicht, wie man den Namen ausspricht.
Lena [mit perfekter französischer Aussprache]: ″Étienne de La Boétie – Von der freiwilligen Knechtschaft″ [Sie liest den Klappentext] ″Die kleine Schrift aus dem 16. Jahrhundert, verfasst vom libertären Humanisten de La Boétie, gilt als wegweisend für die modernen Theorien über die Freiheit des Individuums. Sein Begriff von Freiheit prägte die Philosophen der Aufklärung ebenso wie emanzipatorische Gesellschaftskritiker im 19. oder anarchistische Theoretiker im 20. Jahrhundert.″ Hm. Klingt vielversprechend. [Sie gibt ihm das Buch zurück.] Und?
Lutz: Wirklich? Du findest, das klingt vielversprechend?
Lena: Ja, klar! Wegweisend für die modernen Theorien über die Freiheit des Individuums – was gibt es Wichtigeres als Freiheit?
Lutz: Finde ich auch. Deswegen habe ich das Buch auch gekauft. Aber als ich es neulich jemandem gezeigt habe, sagte der, dass ihn der Klappentext schon ins Wachkoma versetzen würde.
Lena: Wer war das?
Lutz: Kennst du nicht. Aber ich kann es, glaube ich, teilweise nachvollziehen. Der Klappentext enthält solch bombastisch wirkende Begriffe wie ″libertärer Humanist″, ″die Philosophen der Aufklärung″, ″emanzipatorische Gesellschaftskritiker″ und ″anarchistische Theoretiker″. Wenn man das so hintereinander wegliest, kann man den Eindruck kriegen, man müsste ganz genau wissen, wovon die Rede ist. Was, zum Beispiel, ist ein ″emanzipatorischer Gesellschaftskritiker des 19. Jahrhunderts″? Hat das was mit Gleichberechtigung der Frauen zu tun oder wird ″emanzipatorisch″ hier in einem allgemeineren Sinn benutzt?
Lena: Ist doch egal. Kann man ja nachschlagen.
Lutz: Ja, klar. Ich meine nur, dass diese Begriffe vielleicht etwas einschüchternd wirken können.
Lena: Vielleicht liegt es nur daran, dass jedem Hauptwort ein Adjektiv vorangestellt ist. Dadurch wirkt der Text vollgestopft mit Informationen. Aber wenn man genau hinschaut, ist es eigentlich nicht so kompliziert. Außerdem geht es immer um das Gleiche: libertär heißt ″freiheitlich″, emanzipieren heißt ″sich befreien″, und Anarchie heißt ″ohne Herrschaft″. Aber jetzt sag doch mal! Worum geht′s genau?
Lutz: Der Titel sagt schon alles. Der Autor versucht herauszufinden, warum wir uns freiwillig einem Tyrannen unterwerfen. Er fragt sich zum Beispiel, ob es aus Feigheit geschieht, hält das aber für unwahrscheinlich, weil der Tyrann ja nur einer ist, die Untertanen aber viele.
Lena: Ziemlich kurz gedacht. Der Tyrann ist ja nicht allein; er hat Helfershelfer - seine Schergen, die im Verbund ein ganzes System der Unterdrückung aufbauen. Im Grunde unterdrückt das Volk sich selbst.
Lutz: Mensch, Lena – jetzt wart′s doch mal ab! Dazu kommt er ja noch!
Lena: Na, dann mal los!
Lutz: Du hast schon recht; das Volk unterdrückt sich selbst. Zu diesem Schluss kommt er auch. Aber er geht systematisch vor. Zunächst mal stellt er, wie gesagt, fest, dass der Tyrann ein Einzelner ist, und fragt, wieso er so viel Unterstützung bekommt. Die Schergen und Helfershelfer müssen ja auch erst mal ihren Dienst antreten.
Lena: Das System beruht auf persönlicher Bereicherung, deshalb...
Lutz: Warte! Dazu kommt er auch noch.
Lena [schlägt sich demonstrativ die Hände vor den Mund]: Okay, ich halt die Klappe.
Lutz: Weißt du, am Anfang denkt er noch nicht systemisch. Er tastet sich langsam heran. Also, er überlegt, ob es Feigheit sein kann, und kommt zu dem Schluss, nein, kann es nicht sein, und zwar aus zwei Gründen: Erstens – wie gesagt -, der Tyrann ist allein, die Untertanen sind viele. Zweitens führt er das Beispiel von zwei gleichstarken Armeen an, von denen die eine für ihre Freiheit kämpft und die andere dafür, diese Freiheit zu unterdrücken, und behauptet, dass die Freiheitskämpfer auf jeden Fall gewännen, weil ihre Motivation viel stärker sei. Wenn der Freiheitswille uns also besonders tapfer macht, kann der Grund für freiwillige Knechtschaft nicht Feigheit sein.
Lena: Das gefällt mir, weil…
Lutz [fällt ihr ins Wort]: Siehst du? Es lohnt sich auch mal, nicht immer gleich dazwischenzuquatschen! [Lena schaut ihn an und wartet. Groschen fällt bei Lutz.] Oh! [Er kichert.] Okay. Also, es gefällt dir, weil…?
Lena: Weil es den Begriff der Feigheit entblößt, der ja negativ besetzt ist. Man kann sich eben nicht aussuchen, wie man in einer Extremsituation agiert. Manchmal kommt man in Rage und kann kämpfen, und manchmal ist man gelähmt vor Angst. Die Umstände sind entscheidend, und Motivation spielt bestimmt auch eine Rolle. Wenn es um meine Freiheit geht, gerate ich vielleicht eher in Rage.
Lutz: Genau. Das Wort ″Feigheit″ ist mir beim Lesen auch aufgestoßen. Aber ich glaube, er meint es gar nicht als plakative Charakterbeschreibung - also die Feigheit als Laster und Mut als Tugend oder so -, sondern mehr als einen momentanen Zustand - die Reaktion auf eine ganz bestimmte Situation, und zwar auf eine Kampfsituation – in einem Kampf ist man mutig und in einem anderen feige. Er fragt sich eben, was die Untertanen so ″feige″ macht. Er fragt sich, warum sie nicht einfach ihre Fronarbeit niederlegen. Wenn das alle machten, wäre die Herrschaft eines Königs sofort beendet. Mal abgesehen von den äußeren Zwängen, also der offensichtlichen Lebensgefahr, in die sich jeder Einzelne begibt, wenn er den Gehorsam verweigert, stellt sich aber noch die Frage, warum es so viele geknechtete Menschen gibt, die nicht nur nicht rebellieren, sondern anscheinend in sich gar nicht mehr den Wunsch nach Freiheit verspüren, Menschen also, die freiwillig in der Knechtschaft leben.
Lena: Hm. Wenn Gehorsamsverweigerung lebensgefährlich ist, kann man doch nicht von Freiwilligkeit reden.
Lutz: Ja. Aber ich glaube, er will darauf hinaus, dass der Gehorsam so weit internalisiert ist, dass er nicht mehr als solcher wahrgenommen wird, weil ihm kein schmerzlich brennender Freiheitswunsch mehr entgegensteht. Er kommt dann zu folgendem Gedanken.
Lena: Jetzt bin ich aber gespannt.
Lutz: Er schreibt, dass die Knechtschaft die Menschen ″verderbt″ hat und dass sie die Freiheit nur deshalb nicht mehr wollen, weil sie die Freiheit, wenn sie diese nur wollten, auch hätten.
Lena: Hä? Wenn sie die Freiheit nur wollten, dann wären sie auch frei? Wieso das?
Lutz: Weil er ja meint, dass die Untertanen viele sind und der Tyrann nur einer. Wenn alle gleichzeitig den Gehorsam verweigerten, wäre die Herrschaft beendet.
Lena: Aber jeder Einzelne hat doch Angst vor den Folgen der Gehorsamsverweigerung – und zwar zu recht! Es gibt – wie gesagt – ein ganzes System der Unterdrückung, an dem sich viele Leute beteiligen, weil sie davon profitieren.
Lutz: Ich weiß, ich weiß. Darauf kommt er auch noch. Aber er sagt an dieser Stelle noch etwas, das mich irgendwie interessiert. Beim Lesen habe ich es erst nicht verstanden. Ich bin nicht sicher, ob ich es jetzt verstanden habe, aber vielleicht verstehe ich es besser, wenn ich es dir erzähle. Also, er sagt: Die Menschen wollen die Freiheit nicht, weil sie diese nur wünschen müssten, um sie zu bekommen; die Freiheit wird verschmäht, weil sie eine zwar schöne, aber zu leichte Beute ist.
Lena: Das wundert mich gar nicht, dass du das nicht verstanden hast. Es macht keinen Sinn. Der Grund dafür, dass die Menschen sich die Freiheit nicht wünschen, ist nicht der, dass der Wunsch ausreicht, um sie zu erhalten. Das ist doch Quatsch. Die Freiheit ist kein Wunsch, den man bei einer guten Fee frei hat; im Gegenteil: Wenn man den Freiheitswunsch hat und vielleicht sogar äußert, riskiert man sein Leben.
Lutz: Ja, eben. Ich verstehe es auch nicht. Warum sagt er das?
Lena: Ach, manchmal versteigt man sich in seinen Gedankenmodellen zu irgendeiner These, weil sie interessant oder schön klingt. Wir wünschen uns die Freiheit nicht, weil wir sie nur wünschen müssten, um sie zu erlangen. Das ist eine Art Zirkelschluss. Der Gedanke ist hermetisch in sich abgeschlossen. So wirkt er gewissermaßen ″schlüssig″. Er ist es aber nicht, wenn man andere Dinge berücksichtigt wie zum Beispiel ein System der Unterdrückung mit realen Bedrohungen für Leib und Leben.
Lutz: Ja, das kann sein. Irgendetwas in mir resoniert aber trotzdem noch. Vielleicht ist es die Entscheidung. Wir entscheiden uns dafür, die Freiheit nicht zu wünschen. Und wir entscheiden uns so, nicht weil es ″zu leicht″ wäre, sondern aus anderen Gründen. Aber die Tatsache, dass unsere Freiheit quasi nur einen Wunsch entfernt ist, hat eine Bedeutung. Wenn wir zum Beispiel in einem Unterdrückungssystem leben, dann kann uns dieser Wunsch schon das Leben kosten, also müssen wir uns dafür entscheiden, diesen Wunsch nicht zu haben. Die greifbare Nähe der Freiheit ist sozusagen gefährlich und deswegen bedeutsam.
Lena: Hm. Ja, vielleicht war das sein Gedanke, aber er hat ihn nicht ganz klar formuliert bekommen. Ich glaube, man hängt als Leser manchmal zu sehr an dem geschriebenen Wort – so als müsste das die absolute Wahrheit sein, und wenn man es nicht versteht, dann kann es nur an einem selbst liegen. Vielleicht hätte der gute Étienne den Satz rausgeschmissen oder geändert, wenn ihn jemand darauf angesprochen hätte - wenn er hätte erklären müssen, was genau das denn zu bedeuten hat. Aber jetzt erzähl mal weiter.
Lutz: Jetzt kommt ein sehr schöner Gedanke. Er schreibt, dass wir von Natur aus gehorsam nur den Eltern gegenüber, untertan nur der Vernunft und ansonsten niemandem zu eigen sind. Und dass die Natur uns alle nach dem gleichen Modell gemacht hat, so dass wir uns als Genossen und Brüder erkennen können. Schwestern kommen natürlich nicht vor.
Lena: Natürlich nicht.
Lutz: Und wenn es irgendwelche Unterschiede gibt - wenn zum Beispiel einer stärker als der andere ist -, dann bestimmt nicht, damit der Stärkere den Schwächeren zu seinem Sklaven macht, sondern damit der Stärkere dem Schwächeren hilft.
Lena: Warum sollte die Natur das eine oder auch das andere ″beabsichtigen″? Ja, es gibt Unterschiede, und bestimmt gibt es keinen Grund, warum der Stärkere die anderen unterdrücken sollte, aber es gibt genauso wenig einen Grund, den anderen zu helfen. Oder? Ich meine, ich weiß, es gibt einen Grund, und das ist der Gedanke der Kooperation und der Gemeinschaft. Selbst wenn ich stärker als alle anderen Menschen bin, kann ich doch nicht alleine leben, weil ich Liebe, Zuwendung und so weiter brauche. Aber das ist ja vielleicht eine ziemlich moderne Erkenntnis, die selbst bei den allermeisten unserer Zeitgenossen noch nicht angekommen zu sein scheint. Also, wie erklärt dieser Autor aus dem 16. Jahrhundert diese ″Absicht″ der Natur?
Lutz: Er erklärt es genau wie du. Er sagt, dass die Natur der ″brüderlichen Liebe Raum schaffen″ will, indem sie die Menschen unterschiedlich macht, damit diese Liebe sozusagen ein Betätigungsfeld hat. Er schreibt so etwas wie: Die einen haben die Macht, Hilfe zu leisten, und die anderen haben die Not, Hilfe zu empfangen. Das läuft doch im Grunde auf Kooperation hinaus.
Lena: Ja, und auch auf Liebe. Kooperation ist ja nicht nur ein praktisches Überlebenskonzept; es bringt uns eben auch in Kontakt miteinander; und nur im Kontakt mit anderen Lebewesen können wir Liebe erfahren.
Lutz: Zwei Fliegen mit einer Klappe!
Lena: Genau. Nicht nur Überleben, sondern auch gut leben - Luft und Liebe!
Lutz: Hm. Die Luft kommt ja von der Natur. Es ist doch das Brot, das wir noch brauchen, und das bekommen wir eben durch Kooperation.
Lena: Natürlich. Du hast recht. War ein Schnellschuss. Aber Brot und Liebe klingt einfach nicht so gut. Egal. Erzähl weiter!
Lutz: Er sagt noch etwas Schönes, nämlich dass die Natur uns alle aus dem selben Stoff gemacht hat, damit jeder Mensch sich in einem anderen selbst erkennen kann, und dass die Sprache uns dazu dient, uns noch weiter zu verständigen und uns zu einer Gemeinschaft zusammenzuschweißen, dass also die Natur alles getan hat, um uns zu zeigen, dass wir alle Genossen sind, und dass es deshalb völlig unsinnig wäre, anzunehmen, einer wäre zum Herrscher und ein anderer zum Knecht bestimmt.
Lena: Er sagt also, Knechtschaft ist im Grunde widernatürlich.
Lutz: Genau! Er sagt, dass im Gegenteil die Freiheit unserer Natur entspricht, dass wir frei geboren werden und außerdem mit dem Trieb, unsere Freiheit zu verteidigen. Dann fragt er sich, was uns so weit von unserer Natur entfernt hat, unsere Freiheit aufzugeben. Jetzt denkt er erst mal über die Formen der Tyrannei nach. Er sagt, es gibt drei Arten von Tyrannen: die Gewählten, die Eroberer und die Thronerben. Bei den Eroberern und Thronerben kann man davon ausgehen, dass sie Tyrannen sein wollen bzw. nichts anderes kennen. Bei einem vom Volk gewählten Herrscher sollte man meinen, er könnte auch ein guter Herrscher sein, der das Wohl seiner Mitmenschen im Auge behält, aber es kommt eben oft vor, dass die Herrscherei dem Einzelnen zu Kopf steigt, er sich an die Macht gewöhnt und sie vielleicht auch an seine Kinder vererben will, weswegen er also immer tyrannischer agiert, um an der Macht zu bleiben.
Lena: Vielleicht ist alles eine Sache der Gewohnheit – auch die Knechtschaft?
Lutz: Ja, das sagt er auch. Er sagt, dass man die erste, die noch freie Generation eines Volks mit Gewalt in die Knechtschaft zwingen muss, dass aber die nächste Generation, die schon ″unter dem Joch″ geboren wurde, gar nicht mehr weiß, was Freiheit eigentlich ist, und deswegen weniger aufmüpfig ist. Diese Menschen halten ihren unfreien Zustand für natürlich.
Lena: Widerspricht das nicht seiner vorherigen These, dass wir frei und mit Freiheitsdrang geboren werden?
Lutz: Er sagt, dass die Natur weniger Macht über uns hat als Sitten und Gebräuche, dass also die Gewohnheit der Knechtschaft auf Dauer stärker ist und unseren Freiheitssinn verkümmern lässt. Er vergleicht es mit einer Pflanze, deren Same zwar bei unserer Geburt vorhanden ist, die aber gehegt und gepflegt werden müsste, damit sie gedeiht. Und er sagt, dass er Mitgefühl hat mit den Unfreien, dass man ihnen ihre freiwillige Knechtschaft nicht vorwerfen kann, denn sie wüssten es nun mal nicht besser.
Lena: Und wer ist ″man″? Wenn alle in Knechtschaft geboren sind und sich daran gewöhnt haben und ihr Freiheitssinn verkümmert ist, wer sind dann diejenigen, die sich trotzdem nach Freiheit sehnen?
Lutz: Er sagt, das sind die Schlauen.
Lena: Ach?
Lutz: Ja. Diejenigen mit einem ″guten Verstand und einem hellen Geist″. Er sagt, das sind die Leute, die – anders als die große Masse – hinter das Alltägliche schauen können, die zum Beispiel die Gegenwart mit der Geschichte vergleichen, indem sie Bücher lesen. Diese Leute würden die Freiheit, auch wenn sie momentan nirgends existiert, in ihrer Phantasie wieder erschaffen.
Lena: Aha. Also Bildung und Reflexion.
Lutz: Ja. Und deswegen würden viele Tyrannen auch darauf achten, den Bildungsstand ihres Volkes möglichst niedrig zu halten. Und das führt dazu, dass diese gebildeten Freiheitsliebenden nur sehr vereinzelt vorkommen. Und wenn es doch zu viele Gelehrte gibt, dann sorgt der Tyrann dafür, dass sie keine Wirkung auf die Gesellschaft ausüben. Zum Beispiel werden ihre Schriften nicht veröffentlicht, und so findet keine Vernetzung zwischen den Freiheitskämpfern statt, weswegen sie sich nicht zu einer starken Bewegung formieren können. Aber er führt noch einen anderen Grund für die freiwillige Knechtschaft an.
Lena: Du meinst, außer der Gewohnheit?
Lutz: Ja. Der zweite Grund sei, dass die Menschen unter der Tyrannei ″weibisch und feige″ werden.
Lena: Aha. Klingt ja nach einer sehr tiefsinnigen Analyse.
Lutz: Ja, klingt komisch. Aber das ist die Sprache. ″Weibisch″ ist nur ein synonym für ″schwach″. Und über ″feige″ haben wir ja schon gesprochen. Dieser zweite Grund ist eigentlich nichts Neues in seinen Ausführungen. Er hatte ja schon erklärt, dass die Freiheitskämpfer mehr Mut haben, weil für sie mehr auf dem Spiel steht. Und da die freiwilligen Knechte ihren Freiheitssinn an die Gewohnheit der Tyrannei verloren haben, ist es kein Wunder, dass sie ″feige″ sind. Sie sind mutlos und deshalb schwach. Sie trauen sich nicht zu kämpfen, weil sie gar nicht recht wissen, wofür sie kämpfen sollten.
Lena: Na ja. Und außerdem gibt es auch Anreize, sich in die Tyrannei zu fügen, bzw. zum Mittäter zu werden. Wie gesagt - solche Systeme beruhen auf Ausbeutung, und diejenigen, die profitieren, unterstützen gerne das System.
Lutz: Kommt gleich. Zunächst spricht er davon, wie die Tyrannen dem Volk bestimmte Brocken hinwerfen, damit es sich fügt.
Lena: Brot und Spiele?
Lutz: Ganz genau. Er nennt es ″Volksbelustigungen″ – Gladiatoren, exotische Tiere usw. Er spricht auch von ″Medaillen, Bildern und anderem Kram″. Die Leute gewöhnen sich an diese Vergnügungen und Spielzeuge und merken nicht, dass sie geknechtet werden.
Lena: Volksbelustigung und Spielzeug haben wir immer noch – Netflix und Smartphones.
Lutz: Ja. Und die Römer haben dann noch öffentliche Festschmäuse eingerichtet, wo sich die Leute satt essen durften.
Lena: Immerhin!
Lutz: Ja klar. Aber das, was sie essen durften, war ja der Ertrag ihrer eigenen Arbeit. Der Tyrann gibt ihnen also nur etwas zurück, was er ihnen zuvor gestohlen hat.
Lena: Die Römer waren einfach clevere Geschäftsleute. So wie Henry Ford, der wusste, dass er seinen Arbeitern erstens ein bisschen mehr zahlen musste, damit sie auch seine Autos kaufen konnten, und sie zweitens nicht ganz so schinden durfte, damit sie schön produktiv blieben.
Lutz: Außerdem gaben sie sich volksnah. Die römischen Kaiser nannten sich ″Volkstribune″ und erweckten den Anschein, wohlwollende Vertreter des Volkes zu sein. Das war eine Strategie. Andere Tyrannen machten das Gegenteil. Sie vermieden es tunlichst, in der Öffentlichkeit aufzutreten, um eher eine Art Mysterium zu schaffen, einen Nimbus des Göttlichen. Auch die Ägypter setzten darauf; sie zeigten sich zwar öffentlich, aber umgaben sich mit bestimmten bedeutungsschwangeren Symbolen. Sie hatten immer eine Katze dabei oder einen Zweig…
Lena: Eine Katze und einen Zweig?
Lutz: Was weiß ich?! So steht′s in dem Buch. Ich weiß nicht, was das mit dem Zweig soll, aber Katzen waren doch bestimmt was Besonderes in Ägypten. Denk an die Sphinx! Außerdem benutzten sie Spezialeffekte. Zum Beispiel erschienen sie mit Flammen auf dem Kopf. Da rastete das Volk natürlich aus! Er zählt noch mehr solcher Beispiele aus der Antike dafür auf, wie Tyrannen den Aberglauben ausnutzten, und spricht dann auch von seiner eigenen Zeit und der Vorstellung eines Königs von Gottes Gnaden.
Lena: Ich hab mal ein Buch von Yanis Varoufakis gelesen, in dem er schreibt, dass in den aufkommenden Agrargesellschaften der Überschuss meist sehr ungerecht verteilt wurde und dass die Profiteure ihre Machtposition legitimieren mussten, damit die Masse der Bevölkerung die Ungerechtigkeit akzeptierte. Zu diesem Zweck sei die institutionalisierte Religion überhaupt erst erfunden worden.
Lutz: Ja. Gleicher Gedanke. Also, bis jetzt hat er drei Gründe für die freiwillige Knechtschaft und das Funktionieren der Tyrannei genannt: Erstens Gewohnheit, damit einhergehend Schwachheit und Mutlosigkeit, zweitens Brot und Spiele und drittens die Religion. Und jetzt kommen wir endlich zu dem, was du von Anfang an gesagt hast. Der vierte Grund ist die Hierarchie und die Günstlingswirtschaft. Er beschreibt das sehr anschaulich: Im direkten Umfeld des Tyrannen gibt es eine Handvoll Leute, fünf oder sechs, die sein Vertrauen genießen (natürlich nur so weit ein Tyrann Vertrauen haben kann, denn er muss ja ständig fürchten, gestürzt zu werden) und auch sonst allerlei Privilegien. Diesen sechs sind wiederum 600 unterstellt, die auch noch in hohem Maße profitieren. Und diese 600 halten sich wiederum 6000, die einen ranghohen Verwaltungsposten mit Gelegenheit zur persönlichen Bereicherung bei garantierter Straffreiheit bekommen. Und wenn man weiter die Leiter hinuntersteigt, dann sieht man, dass da auf den unteren Stufen noch weitere Hunderttausende oder gar Millionen stehen, die dem Tyrannen zuarbeiten und dafür etwas von der Beute abbekommen. So gibt es in einem solchen System fast ebenso viele Leute, denen die Tyrannei nützt, wie solche, denen die Freiheit lieber wäre.
Lena: Ja. Viele Gesellschaftssysteme basieren auf Ausbeutung. Und dazu gehören immer zwei Gruppen – die Ausbeuter und die Ausgebeuteten. Das ist doch klar. So scheint mir im Moment die ganze Welt organisiert zu sein. Ein Teil der Weltbevölkerung lebt im Grunde auf Kosten der anderen. Aber mir ist immer noch nicht ganz einsichtig, wo hier die Freiwilligkeit sein soll.
Lutz: Am Ende des Buches kommt er nochmal auf die oberen sechs zu sprechen.
Lena: Du meinst die direkten Helfershelfer in der Nähe des Tyrannen – die Himmlers, Görings und Goebbels und so weiter?
Lutz: Genau. Er sagt, dass diese Leute bei allen Privilegien, die sie genießen, im Grunde noch schlechter dran seien als die Arbeiter auf den unteren Stufen. Der Bauer auf dem Feld mache zwar gehorsam seine Arbeit, müsse aber ansonsten sich gedanklich nicht weiter mit dem Tyrannen beschäftigen. Die oberen Sechs aber seien ständig in der Nähe des Tyrannen und müssten deshalb viel vorsichtiger sein, ihre wahren Gefühle zu zeigen, müssten dem Tyrannen also dauernd nicht nur physisch, sondern auch geistig zu Diensten sein, ihn bei guter Laune halten, ihm jeden Wunsch von den Augen ablesen und so weiter. Sie täten dies, weil sie ihre Privilegien erhalten wollen, aber dadurch seien sie eigentlich noch unfreier als der Bauer auf dem Feld.
Lena: Wegen der dauernden Speichelleckerei?
Lutz: Ja, so hab ich es verstanden. Und sie machen das, weil sie reich und privilegiert sein wollen. Und reich und privilegiert heißt ja eigentlich auch so etwas wie ″frei″. Aber sie leben gewissermaßen in einem totalen Irrtum, einem Paradoxon, weil sie ihre Freiheit durch Unterwürfigkeit erkaufen. Das ist ein Widerspruch in sich.
Lena: Vielleicht machen sie es auch, weil sie geliebt werden wollen – so wie in einer narzisstischen Beziehung. Ein Mensch mit einer narzisstischen Persönlichkeit – und ich würde sagen, Tyrannen fallen in diese Kategorie – kann sehr charmant sein, wenn er andere an sich binden will. Natürlich wird er einem sofort die Gunst entziehen, wenn man sich irgendwie gegen ihn stellt. Und deswegen leben diese Speichellecker in ständiger Angst. Für einen Narzissten ist es egal, wen er um sich herum hat, so lange man ihm zu Diensten ist; er ernährt sich gewissermaßen von den Gefühlen der anderen; zum Beispiel will er bewundert werden. Aber die Bewunderer sind völlig austauschbar.
Lutz: Genau so beschreibt er es. Er sagt, dass für einen Tyrannen wahre Freundschaft ″indiskutabel″ sei, weil sie ja auf Gleichheit basiert.
Lena: ″Indiskutabel″ - das ist ein gutes Wort. Für einen Tyrannen ist alles indiskutabel. Aber das mit der Freiwilligkeit beschäftigt mich immer noch. Also, die oberen sechs lecken freiwillig die Tyrannenstiefel, weil sie dadurch Macht und Reichtum bekommen. Und wenn sie co-narzisstische Tendenzen haben, dann genießen sie auch noch die hingeworfenen Gunstbrocken des Tyrannen, wenn der gerade gute Laune hat. Vielleicht sind sie auch Co-Narzissten mit dem Tyrannen, aber Narzissten mit ihren eigenen Untergebenen. Sie buckeln nach oben und treten nach unten. Und so ist das wahrscheinlich auch bei den 600 und den 6000. Das System funktioniert über Macht und Gewalt, und der Einzelne ist in manchen Bereichen frei (er kann nach unten treten) und in manchen Bereichen Knecht (er muss nach oben buckeln). Selbst der Tyrann, der als Einziger nicht buckeln muss, sondern alle treten darf, ist nicht wirklich frei, weil er im Grunde ständig Angst haben muss, vergiftet, erdolcht oder sonstwie gemeuchelt zu werden. Und was ist das überhaupt für eine Freiheit, die sich darin manifestiert, andere treten zu dürfen? Und was ist mit denen auf der untersten Stufe, die niemanden zum Treten unter sich haben, außer ihren Haustieren, Kindern und Ehefrauen?
Lutz: Die Freiheit manifestiert sich nicht nur im Treten. Die auf den oberen Stufen haben auch noch andere Privilegien, ein gesichertes Auskommen zum Beispiel.
Lena: Ist das denn Freiheit – ein gesichertes Auskommen? Das ist doch erstmal nur Überleben.
Lutz: Überleben ist ein Teil, ja eigentlich eine Vorbedingung der Freiheit. Wenn man tot ist, braucht man keine Freiheit mehr.
Lena: Man könnte genau so gut sagen, dass die Freiheit eine Vorbedingung für ein gutes Leben ist, dass also reines Überleben ohne Freiheit kein lebenswertes Leben ist. Aber noch was anderes: Vielleicht darf man die Freiheit nicht als eine absolute Größe definieren, sondern muss sie als teilbare Menge betrachten. Vielleicht wird in einem Ausbeutungssystem die Freiheit – genau wie Brot und Spiele – als eine Art Währung benutzt. Für bestimmte Leistungen bekommt man ein bisschen Freiheit zugeteilt. Wobei das Ganze paradox ist, denn diese ″Leistung″ besteht ja in der Unterwürfigkeit. Man bekommt also Freiheit für die Aufgabe der Freiheit.
Lutz: Das klingt tatsächlich absurd. Außerdem ist es noch fraglich, ob Freiheit überhaupt etwas ist, was zugeteilt werden kann.
Lena: Im Grunde läuft alles immer auf dasselbe hinaus: In einem totalitären System wirst Du ins Gefängnis geworfen oder umgebracht, wenn Du Dich nicht konform verhältst. Jetzt ist die Frage, ob es für Dich persönlich schlimm ist, Dich konform verhalten zu müssen oder nicht, und das hängt ja auch von Deiner Meinung zu bestimmten Dingen ab. Deshalb finde ich den Begriff der ″freiwilligen Knechtschaft″ problematisch. Entweder Menschen empfinden die Knechtschaft als solche; dann ist sie nicht freiwillig. Oder sie empfinden sie nicht als Knechtschaft, und dann ist sie faktisch auch keine Knechtschaft.
Lutz: Vielleicht geht es nicht nur um den Einzelnen. Auch wenn ich es persönlich nicht schlimm finde, dass Juden nicht auf einer Parkbank sitzen dürfen, muss mir doch klar sein, dass ″Juden″ morgen ausgetauscht werden könnte gegen eine andere Gruppe, zu der ich dann vielleicht dazugehöre.
Lena: Das glaube ich nicht. Ich glaube, wenn ich es persönlich nicht schlimm finde, dass Juden nicht auf der Parkbank sitzen dürfen, dann ist mir nicht klar, dass es morgen mich erwischen könnte. Im Gegenteil. Dadurch dass da ″Juden″ steht und das eine Gruppe ist, zu der ich mich nicht zähle, rückt der Gedanke, dass ich selbst ausgegrenzt werden könnte, in weite Ferne. Ich glaube, dass der Blick auf die Ausgrenzung einer Gruppe, der ich nicht angehöre, mein eigenes Gefühl der Zugehörigkeit verstärkt. So fühle ich mich sicher und komme nicht auf die Idee, dass meine eigene Freiheit in Gefahr sein könnte.
Lutz: Ist das bei dir wirklich so? Siehst du das Schild und fühlst dich sicher?
Lena: Nein, wenn ich das Schild sehe, läuten bei mir alle Alarmglocken, und ich denke daran, wie ich das Land verlassen kann.
Lutz: Eben. Bei mir auch. Aber das scheint ja nicht bei allen Leuten so zu sein. Warum bloß?
Lena: Vielleicht ist es eine Art Reflex. Die Ausgrenzung der Anderen verstärkt bei mir das Zugehörigkeitgefühl mit meiner eigenen, in diesem Fall nicht ausgegrenzten, sondern ausgrenzenden Gruppe. Die Unfreiheit der Anderen vergrößert meine eigene Freiheit. Oder anders ausgedrückt: Meine Freiheit geht auf Kosten der Freiheit von anderen. Da wären wir wieder bei der Freiheit als einer Art von Währung.
Lutz: Das funktioniert aber wirklich nur, wenn ich in diesen Gruppen denke; wenn ich die Menschen zum Beispiel in Juden und Nichtjuden aufteile.
Lena: Das Problem ist, dass deine persönliche Sicht der Dinge vielleicht nicht so ins Gewicht fällt, wenn an jeder Parkbank ein Schild hängt ″Für Juden verboten″. Das Schild teilt die Menschen auf in Juden und Nichtjuden. Das Schild macht aus der Welt eine, in der diese Gruppen existieren. Wenn du diese Aufteilung verweigerst, stellst du dich gegen die Welt.
Lutz: Dann ist es doch wieder unfreiwillig. Wer will sich schon gegen die Welt stellen? Wer kann das überhaupt? Gegen den Strom zu schwimmen endet meistens tödlich.
Lena: Ja. Angst ist ein Faktor. Und vielleicht eben auch die Gewohnheit: Hat man genug Schilder gesehen, glaubt man irgendwann daran, was drauf steht; man internalisiert die Aufteilung. Und wenn wir ehrlich sind, dann liegt uns dieses Aufteilen im Blut. Wir wollen ja unbedingt einer Gruppe zugehören; wir müssen es sogar, um zu überleben. Wir wollen vertraute Menschen um uns haben; wir wollen vertrauen und nicht misstrauen, weil Vertrauen sich besser anfühlt. Vertrauen ist Liebe, Misstrauen ist Angst. Aber es fällt uns schwer, Fremden zu vertrauen. Wir sind vorsichtig, weil wir überleben wollen. Und Vertrauen ist etwas, das nicht von Anfang da ist; es muss wachsen. Wenn ich einem fremden Menschen begegne, muss ich erst eine Verbindung herstellen, bevor Vertrauen entstehen kann. Insofern bieten Gruppen einen Vertrauensvorschuss. Wenn ich einem Menschen meiner eigenen Gruppe begegne, setze ich eine Verbindung schon voraus, auch wenn ich diesen bestimmten Menschen noch nicht persönlich kenne. Dabei ist es egal, wie willkürlich die Gruppe definiert ist. Im Extremfall kann es nur die Farbe der T-Shirts sein, welche für die Aufteilung sorgt.
Lutz: Gruppen bieten also Geborgenheit, aber sie schaffen das, indem sie ausgrenzen, und Ausgrenzung ist das Gegenteil von Geborgenheit. Das ist doch verrückt!
Lena: Ja, jeder fühlt sich wohl in seiner eigenen Gruppe und muss nur aufpassen, dass er nicht der Ausgrenzung der anderen Gruppe zum Opfer fällt. Wenn sich die verschiedenen Gruppen nicht in die Quere kommen, ist alles in Ordnung. Aber dazu ist die Welt vielleicht zu klein.
Lutz: Das beantwortet immer noch nicht die Frage der freiwilligen Knechtschaft. Der Ausgangspunkt war doch: Warum spüren viele Menschen nicht, dass sie unterjocht werden? Und spüren sie es wirklich nicht? Warum leben manche glücklich und zufrieden in einer Diktatur und andere ertragen es nicht und wollen sich am liebsten umbringen? Warum läuten bei vielen Menschen keine Alarmglocken, wenn sie das Parkbankschild sehen? Warum begreifen sie nicht, dass ihre eigene Freiheit auch in Gefahr ist, selbst wenn sie zufällig nicht zu der diskriminierten Minderheit zählen? Warum, zum Beispiel, begreifen viele Leute im Moment nicht, dass ihre eigene Meinungsfreiheit in Gefahr ist, wenn andere Meinungen unterdrückt werden? Warum läuten nicht auf der ganzen Welt die Alarmglocken, wenn Youtube-Videos gelöscht werden, die eine alternative Perspektive auf die Coronasituation anbieten?
Lena: Mann, Lutz! Jetzt hören wahrscheinlich 50 Prozent der Leute auf zu lesen.
Lutz: Ist mir egal! Wie soll ich über freiwilligen Gehorsam sprechen und dabei nicht an die gegenwärtige Lage denken?
Lena: Smaltnik wird nicht erfreut sein; er wollte das Thema aussparen.
Lutz: Ich weiß. Verstehe ich ja auch. Er will keine Leser vergraulen. Aber jetzt sei doch mal ehrlich – das ist doch absurd. Wir philosophieren hier großspurig über ein Phänomen anhand eines 300 Jahre alten Textes, aber wir sind gerade mitten in einem gigantischen Lebendexperiment, in dem wir genau dieses Phänomen überall um uns herum und auf der ganzen Welt beobachten können. Wenn Boétie hier mit uns säße, würde er uns für verrückt erklären, wenn wir nicht darüber sprächen.
Lena: Die allermeisten Leute würden ihre derzeitige Situation sehr wahrscheinlich nicht als Knechtschaft deklarieren. Vielleicht empfinden viele es als unangenehm, eine Maske zu tragen; wahrscheinlich sind viele unzufrieden darüber, dass ihre Geschäfte geschlossen bleiben müssen; sehr wahrscheinlich sind einige sehr unglücklich, dass sie ihre Eltern oder Großeltern nicht besuchen können, und ganz sicher sind viele Großeltern verzweifelt, dass sie keinen Besuch bekommen. Aber die meisten stellen tapfer ihre eigenen Bedürfnisse zurück, weil sie im Namen eines höheres Zieles handeln – dem Schutz des Lebens. Sie geben also freiwillig einige Privilegien auf. Sie entscheiden sich frei dafür, die Maske zu tragen, ihr Geschäft zu schließen und ihre Großeltern nicht zu besuchen. Insofern kann man nicht von Knechtschaft reden.
Lutz: Das stimmt. Aber darum geht es mir im Moment nicht. Ich spreche von der Meinungsfreiheit. Zumindest für einige Leute, Journalisten zum Beispiel, muss es doch offensichtlich sein, dass bestimmte Meinungen im Moment ganz gezielt unterdrückt werden. Wieso gehen die nicht auf die Barrikaden?
Lena: Sie denken, dass sie in diesem Fall im Namen des höheren Ziels handeln.
Lutz: Du meinst, sie sind prinzipiell schon für Meinungsfreiheit, aber Leute, die etwas anderes behaupten als die Tagesschau, dürfen zensiert werden?
Lena: Ja. Sie denken, dass der Zweck (der Schutz des Lebens) die Mittel (das Aussetzen der Freiheit für ganz bestimmte Meinungen) heiligt.
Lutz: Das heißt, es wird angenommen, dass von der Äußerung einer solchen Meinung eine direkte Gefahr ausgeht. Die Meinung ist eine Waffe, deren Anwender unschädlich gemacht werden muss.
Lena: Genau. Wenn zu viele Menschen durch diese Waffe davon überzeugt werden können, dass dieses Virus mehr oder weniger so gefährlich wäre wie andere Grippeviren, und wenn diese Menschen deshalb aufhören würden, Masken zu tragen und Abstand zu halten, dann würde es zu einem signifikanten Massensterben kommen, und das will man verhindern. Die geäußerte Meinung wird als Anfang einer Kettenreaktion gesehen, an deren Ende der Tod steht. Somit muss die Meinung unterdrückt werden. Man handelt im Namen des höheren Ziels.
Lutz: Die Vertreter dieser Auffassung übersehen dabei aber, dass sie selbst morgen Opfer werden könnten, wenn ihre eigene Meinung dann zu einer Waffe erklärt wird.
Lena: Natürlich übersehen sie das. Sie glauben, es handelt sich um eine Ausnahme, um einen absoluten Notfall, in dem jetzt nicht anders gehandelt werden kann. Vielleicht empfinden einige sogar Mitleid mit den diffamierten und mundtot gemachten Meinungsäußerern, aber sie stehen trotzdem hinter dieser Praxis, weil es ihrer Meinung nach um Leben und Tod geht.
Lutz: Sie sehen nicht, dass es ums Prinzip geht, dass die Meinungsfreiheit nur existiert, wenn sie eben ohne Ausnahme existiert. Sobald eine einzige Ausnahme gemacht wurde, gibt es diese Freiheit nicht mehr und zwar für alle nicht und auch für die Zukunft nicht mehr. Das ist doch nicht so schwer zu begreifen.
Lena: Ich glaube, dass der Begriff der Meinung missverstanden wird. Oft wird Meinung mit einem Aufruf gleichgesetzt. Und dann ist man sofort beim Vorwurf der Volksverhetzung. Eine Meinung wird dann eben als gefährliche Waffe deklariert. Es gibt aber einen Unterschied zwischen dem Satz ″Ich bin der Meinung, Schwarze haben kein Recht zu leben″ und dem Satz ″Gehet hin und tötet jeden Schwarzen, dem ihr begegnet!″
Lutz: In letzter Konsequenz muss man sogar sagen, dass zwischen diesen beiden Sätzen auch kein Unterschied besteht. Es kommt doch darauf an, was die Menschen machen, die diese Sätze hören. Keiner muss den ersten Satz glauben und keiner muss der Aufforderung des zweiten Satzes nachkommen. Im Grunde spricht man durch den Paragrafen der Volksverhetzung den Menschen ein eigenverantwortliches Denken und Handeln ab. Und genau diese Haltung, nämlich dass eine Gruppe von Leuten darüber entscheidet, was andere Leute erstens sagen und zweitens wiederum andere Leute hören dürfen, steht – meiner Meinung nach – dem Gedanken der Freiheit entgegen. Das ist Bevormundung – nicht nur der Verhetzer, sondern vor allem der potentiell Verhetzten.
Lena: Du meinst, weil diese Bevormundung den Diskurs verhindert? Man könnte ja darüber reden, warum dieser Mensch der Meinung ist, Schwarze hätten kein Recht zu leben. Vielleicht kann man ihn sogar vom Gegenteil überzeugen.
Lutz: Genau. Sprechverbote sind im Grunde auch Denkverbote. Es gibt nichts, was nicht gesagt werden darf. Alles muss gesagt werden dürfen, damit man es diskutieren kann. Wenn man anfängt, das Sprechen zu zensieren, leidet das freie Denken darunter.
Lena: Okay. Aber was ist mit dem Aufruf zum Mord? Das ist ja keine Meinung mehr.
Lutz: Nun ja. Im Grunde sagt jemand: ″Ich bin der Meinung, dass du hingehen solltest und Menschen töten.″ Es ist auch nur eine Meinung, die derjenige, der sie hört, nicht teilen muss.
Lutz: Aber wir wissen aus Erfahrung, dass Menschen solchen Aufforderungen nachkommen. Und man kann sagen, dass diese Menschen vielleicht niemanden getötet hätten, wenn sie nicht dazu aufgefordert worden wären. Insofern ist durch diese Aufforderung Leid in die Welt gebracht worden. Und das ist es, was die Gesetzgeber verhindern wollen – Leid. Deshalb bevormunden sie die Sprecher, verbieten ihnen solche Aussagen, die als Anstiftung zu einer Straftat deklariert sind.
Lutz: Ich weiß, ich bewege mich auf dünnem Eis. Vielleicht kann man das nicht auflösen. Aber wir können zumindest ganz klar unterscheiden zwischen geäußerten Meinungen und direkten Aufforderungen. Und wenn jemand sagt, dass er der Meinung ist, dass ein Virus nur so und so gefährlich ist und nicht so und so gefährlich, und dass er deswegen der Meinung ist, dass die angeordneten Maßnahmen unverhältnismäßig sind, dann ist das keine Aufforderung zu einer Straftat. Und deswegen darf diese Meinung nicht zensiert werden – eben weil es eine Meinung ist und keine Aufforderung.
Lena: Ja, man darf Meinungen einfach nicht als Waffen deklarieren. Das ist gefährlich, weil man sich dadurch dem Diskurs verschließt. Die Journalisten, die sich nicht für alternative Meinungen zu interessieren scheinen und diese also der breiten Masse nicht mitteilen, üben ja keine aktive Zensur aus. Auch der Staat übt noch keine aktive Zensur aus. Youtube löscht die Videos. Aber diese Zensur wird geduldet, und das ist natürlich bedenklich. Außerdem wird diesen alternativen Meinungen generell einfach kein Forum gegeben, nicht nur in den Zeitungen, sondern auch in der Politik.
Lutz: Man kann es ja verstehen. Diese willkürliche Zensur seitens Youtube wird geduldet, weil die Meinungen als Waffen gesehen werden, vor denen man Angst hat. Und die Journalisten, deren Aufgabe es eigentlich wäre, über die Zensurpraktiken zu berichten, weil diese gegen das Grundgesetz verstoßen, tun das nicht, weil sie froh sind, dass diese Meinungen nicht gehört werden. Sie sind erleichtert, dass diese vermeintlichen Waffen nicht zur Anwendung kommen.
Lena: Ja. Sie sind ja auch froh, dass Youtube Videos mit Nazi-Meinungen löscht. Vielleicht sind wir alle froh.
Lutz: Bist du da wirklich froh drum? Ich nicht. Solange es nur eine Meinung ist und kein Aufruf zur Gewalt, finde ich, muss es auch diese Meinungen geben dürfen. Wenn wir die Augen davor verschließen, setzen wir uns nicht damit auseinander. Und was ist denn eine Meinung? Wenn jemand sagt, Juden dürfen nicht im Park sitzen, dann kann man nicht davon ausgehen, dass er wirklich über Juden und Parkbänke redet. Die Aussage ist zu absurd. Also geht es bei einer solchen ″Meinung″ gar nicht um den Inhalt, sondern um irgendeinen Schmerz, den derjenige hat. Wenn wir uns dem Diskurs mit ihm verschließen, werden wir nie verstehen, was dieser Mensch braucht. Und wenn wir nicht versuchen, möglichst allen Mitgliedern der Gesellschaft, die sich irgendwie zu Wort melden, zuzuhören, um zu verstehen, was diese brauchen, dann funktionieren wir nicht als Gesellschaft. Gerade die abstrusen Meinungen sind oft eine Art Hilferuf.
Lena: Und die ″Abstrusität″ der Meinung ist auch nur eine Meinung – diesmal eine von uns. Je abstruser sie uns erscheint, desto fremder scheint uns der Mensch zu sein und desto mehr glauben wir das Recht zu haben, nicht zuhören zu müssen. Aber wir sind vielleicht vom Thema abgekommen. Es geht doch um die freiwillige Knechtschaft. Du sagtest, dass die Duldung der Zensur seitens der Politik und der Journalisten im Grunde eine Einwilligung in die eigene Knechtschaft darstellt, weil es heute zwar um die Corona-Maßnahmen geht, zu der jemand eine andere Meinung hat, die wir nicht hören wollen, die wir sogar für gefährlich halten, die wir als Waffe deklarieren, weswegen wir die Zensur also billigen, es morgen aber um ein ganz anderes Thema gehen kann, zu der wir vielleicht eine Minderheitenmeinung haben, die wir dann ja auch nicht zensiert haben wollen. Das heißt, indem wir heute die Zensur von anderen billigen, nehmen wir die Zensur unserer selbst in Kauf. Wir begeben uns also in eine freiwillige Knechtschaft.
Lutz: Genau. Ich glaube, das Problem hierbei ist die Unterscheidung in Gruppen, in Ich und Du. Die Leute, die heute die Zensur einer ihrer Ansicht nach gefährlichen Meinung dulden, teilen die Menschen in Gruppen auf, in solche, die gut für die Gesellschaft sind, und in solche, die der Gesellschaft schaden könnten. Das habe ich gemerkt, als ich mal mit einem Journalisten sprach, der sich mit sichtbarem Ekelgefühl von mir abwandte, als ich meine Meinung zur Unverhältnismäßigkeit der Corona-Maßnahmen äußerte. Ich war für ihn ein, wie er es ausdrückte, Gegner der Zivilisation, die seiner Meinung nach inzwischen so weit fortgeschritten sei, dass der Schutz des Lebens einiger weniger eben ernst genommen werde und die anderen Mitglieder der Gesellschaft bereit seien, sich einzuschränken, um diesen Schutz zu gewährleisten. Über dieses Ausmaß der Solidarität freute er sich und war angewidert von mir, weil ich diese Solidarität seiner Meinung nach nicht empfand. Er teilte also die Gesellschaft in zwei Gruppen, in die Solidarischen und die Unsolidarischen. Ich war für ihn ein Unsolidarischer, von dem er sich lieber abwandte. In diesen Unsolidarischen sieht er eine Gefahr für die Gesellschaft und für die Werte, die ihm am Herzen liegen. Die Duldung der Zensur ist also für ihn ein Dienst an der Gesellschaft. Das Problem ist aber, dass auch die vermeintlich Unsolidarischen Mitglieder der Gesellschaft sind. Dieser Journalist hatte in sich selbst, zumindest in dieser Situation, eine Trennung vollzogen, nach der diese Gruppe besser ausgeschlossen sein sollte. Aber wenn man anfängt, Gruppen auszuschließen, dann gibt es irgendwann keine Gesellschaft mehr. Womit wir wieder bei dem Problem der Ausgrenzung und der Zugehörigkeit wären.
Lena: Ich glaube, wir denken einfach zu klein. Im Grunde sind wir eine Familie auf diesem Planeten, und zwar nicht nur wir, Homo Sapiens, sondern alle Lebewesen.
Lutz: Genau das meine ich. Da wir alle zusammengehören, schließen wir, wenn wir jemanden ausgrenzen, uns selbst aus. Indem wir die Meinungsfreiheit für einen aufheben, heben wir sie für alle auf, also auch für uns selbst. Und damit sind wir bei der freiwilligen Knechtschaft.
Lena: Obwohl die Knechtschaft ja nicht als solche wahrgenommen wird. Wissentlich knechten wir immer nur die anderen. Uns fehlt aber manchmal der übergeordnete Gedanke einer Gesellschaft, die nur ohne Ausgrenzung funktioniert. Wir müssen uns erst vollständig von dem Konzept der Ausgrenzung verabschieden, bevor wir erkennen, dass wir uns selbst in Knechtschaft begeben, wenn wir andere knechten.
Lutz: Hm. Ein ″übergeordneter Gedanke″. Vielleicht meinte Boétie das, als er sagte, es brauche Bildung und Reflexion, um die Knechtschaft zu erkennen.
Lena: Wobei es ja auch viele Gebildete gibt, die im Moment kein Problem mit Zensur haben. Der Journalist, von dem du erzählst, ist sicher sehr gebildet.
Lutz: Ganz sicher. Aber was genau ist denn ″Bildung″? Ich würde sagen, es geht darum, möglichst viele Perspektiven kennenzulernen. Boétie meint ja, dass die Gebildeten, selbst wenn sie in einer Diktatur leben, durch ihr Wissen eine Vorstellung davon haben, dass es auch anders geht; sie haben eine Vorstellung von Freiheit.
Lena: Und geht es hier um ein abstraktes Wissen? Nützt uns das wirklich etwas - zu wissen, dass es freiere Gesellschaften gab, wenn wir selbst in einer Diktatur leben? Ich ziehe die Frage zurück. Natürlich nützt uns das. Aber es geht vielleicht mehr darum, wie wir selbst empfinden – ob wir uns unfrei fühlen oder nicht. Vielleicht kann der Vorgang der Bildung an sich uns helfen, welcher ja darin besteht, immer wieder neue Perspektiven kennenzulernen. Wenn wir also geübt darin sind, uns in andere hineinzuversetzen, dann merken wir vielleicht – auch wenn wir selbst uns gerade frei fühlen -, dass andere sich nicht frei fühlen, dass es zum Beispiel schmerzhaft für andere ist, wenn sie nicht gehört werden. Wenn wir uns diesem Schmerz öffnen, dann verstehen wir erst, dass es nur Zufall ist, dass wir uns gerade frei fühlen. Und wenn wir diesen Schmerz der Anderen für eine Sekunde fühlen, dann wird uns klar, dass das vermeintlich fremde Problem auch unser eigenes ist, dass niemand wirklich frei sein kann, wenn andere unfrei sind.
Lutz: Und das gilt auch umgekehrt. Die, die sich unfrei fühlen, dürfen sich auch in die vermeintlich Freien hineinversetzen. Wenn alle das machen, wird klar, dass alle einen sehr guten Grund haben, erstens dafür wie sie sich fühlen, und zweitens dafür, wie sie handeln.
Lena: Ja. Selbst der Diktator hat einen guten Grund für sein Handeln. Man kann sagen, dass auch er in Knechtschaft lebt, weil er ständig Angst haben muss, gestürzt zu werden, aber er empfindet das nicht als Knechtschaft. Genauso wenig empfinden es die sechs, die 600, die 6000 und viele andere. Sie alle treffen eine Entscheidung für irgendetwas, zum Beispiel für mehr Macht und Privilegien oder dafür, einen halbwegs erträglichen Job zu haben, oder dafür, nicht ins Gefängnis zu müssen. In letzter Konsequenz muss man sagen, dass selbst der machtloseste Mensch, vielleicht ein Häftling in einem Gulag, noch frei ist. Denn er hat nur zwei Möglichkeiten: Er kann entweder gehorchen oder sterben. Also entscheidet er sich für den Gehorsam, um zu überleben. Er entscheidet sich also frei für sein eigenes Überleben.
Lutz: Ich weiß nicht, Lena. Das klingt extrem ausgedacht und fühlt sich irgendwie nicht gut an. Ist die Entscheidung für das nackte Überleben wirklich eine freie Entscheidung? Wenn ich nur die Möglichkeiten habe, entweder schmerzhaft zu leben oder zu sterben, ist das nicht wirklich eine tolle Auswahl. In dieser Wahl bin ich nicht frei, denn, wenn es nach mir ginge, würde ich mir selbst noch ganz andere Optionen geben. Eine solche Wahlsituation ist in sich schon eine Ungerechtigkeit.
Lena: Ja, du hast natürlich recht. Das liegt an dieser extremen Zuspitzung. Wir versuchen immer, an einen Endpunkt zu gelangen, und von diesem Wunsch kann man sich, glaube ich, verabschieden. Unsere frühere Hypothese, dass Freiheit als eine Art Währung benutzt wird, die absurderweise gegen Unfreiheit eingetauscht werden kann, dass man sich also in einem totalitären System Freiheit in Form von Privilegien durch Gehorsam erkaufen kann, ist doch eigentlich ein ganz gutes Modell. Wenn wir das aber jetzt zuspitzen auf eine Extremsituation, wo es nur noch ums nackte Überleben geht, dann verliert diese Arbeitshypothese ihre Beschreibungskraft. Vielleicht ist das der Grund, warum es generell so schwer ist, zu endgültigen Aussagen zu kommen. Je enger wir etwas fassen, desto mehr geht die Komplexität verloren, und in dieser liegt aber vielleicht das, wonach wir suchen. Nur leider ist die Komplexität eben so schwer durchsuchbar, weswegen wir es immer wieder mit Vereinfachungen probieren.
Lutz: Vielleicht ist schon die Suche selbst verfänglich. Wir erwarten ja immer, etwas zu finden – eine Erkenntnis, eine Antwort, eine Handlungsdirektive. Wir suchen nach Lösungen für dieses gigantische Problem, das wir unser Leben nennen.
Lena: Genau. Wir könnten ja mal aufhören, das Ganze als Problem zu sehen.
Lutz: Davon sind wir glaube ich, weit entfernt. Aber probieren kann man es mal. Hast du eine Idee, wie das gehen könnte?
Lena: Jetzt suchst du schon wieder eine Lösung - eine Lösung für das Problem, das Leben nicht mehr als Problem zu sehen.
Lutz: Verdammt!
Lena: Ich hab Hunger. Lass uns was essen gehen.
Lutz: Na, geht doch! Hunger ist das Problem, Essen die Lösung.
Lena: Jetzt bleibt nur noch die Frage, wohin wir gehen. Aber da finden wir schon eine Antwort.
Lutz: Ich glaub auch.
bla
Kommentar 1
01.06.2020
WAS LIEST DU GERADE? - Rutger Bregman: ″Utopien für Realisten″
Lutz: Was liest du gerade?
Lena: Ein Buch von Rutger Bregman. Das ist ein holländischer Historiker; ein ziemlich junger Typ – erst 32. Vielleicht hast du von ihm gehört; er hat 2019 für ein bisschen Skandal beim Weltwirtschaftsforum in Davos gesorgt.
Lutz: War das der, der gesagt hat, die Reichen sollten erst mal ihre Steuern bezahlen, bevor sie sich hier über das Armutsproblem in der Welt auslassen?
Lena: Genau. Und dann sagte er noch, dass er es ziemlich seltsam findet, dass 1500 Teilnehmer in ihren Privatjets angereist sind und sich dann mit entsetzten Mienen Vorträge darüber anhören, wie die Menschheit den Planeten zerstört.
Lutz: Lustig!
Lena: Ja. Er hat Humor und traut sich auch, die Sachen auf den Punkt zu bringen.
Lutz: Aber sag mal, sind da wirklich 1500 Leute in Privatjets angereist? Oder waren es insgesamt 1500 Teilnehmer und einige davon kamen mit Privatjets?
Lena: Weiß ich nicht. Kam mir auch sehr viel vor. 1500 Jets – wo sollen die alle parken?
Lutz: Egal. Wovon handelt das Buch, das du gerade liest?
Lena: Es heißt ″Utopien für Realisten″ und…
Lutz: Interessanter Titel. Eigentlich ein Widerspruch in sich.
Lena: Ja, stimmt. Genau darum geht es. Er definiert den Begriff Utopie eben nicht als etwas, das nur in der Fantasie existiert, sondern als eine Art Inspirationsquelle für durchführbare Veränderungen. Er bringt Beispiele aus der Vergangenheit – Dinge, die einst als utopisch galten und inzwischen Realität geworden sind: die Abschaffung der Sklaverei, Wahlrecht für Frauen, gleichgeschlechtliche Ehen und so weiter.
Lutz: Computer, Handys…
Lena: Genau. Dinge, die für uns heute selbstverständlich sind, waren früher undenkbar oder Science Fiction. Und die ersten, die angefangen haben, sie zumindest zu denken, wurden zunächst verlacht oder Schlimmeres. Das heißt, dass Veränderungen immer als Utopien, als Hirngespinste anfangen, als etwas, das den meisten Leuten vollkommen fremd, abstrus und verrückt erscheint. Mit der Zeit aber kann es passieren, dass diese Hirngespinste sich in immer mehr Köpfen ausbreiten, bis sie eines Tages real werden.
Lutz: Und schlägt er auch konkrete Utopien vor?
Lena: Ja. Im Wesentlichen beschäftigt er sich mit drei Vorschlägen, die etwas zur Verbesserung der Lage beitragen könnten: Erstens Bedingungsloses Grundeinkommen, zweitens 15-Stunden-Woche, und drittens weltweit offene Grenzen.
Lutz: Nun aber mal langsam mit den jungen Pferden! Weltweit offene Grenzen?!
Lena: Ja. Kingt radikal, stimmt′s?
Lutz: Allerdings!
Lena: Undenkbar?
Lutz: Ziemlich.
Lena: Siehst du? Radikal, undenkbar – das sind genau die Attribute einer jeden Utopie. Als Anfang des 20. Jahrhunderts einige Leute anfingen, das Wahlrecht für Frauen zu fordern, haben die meisten Menschen genau so reagiert wie du gerade: ″Nun aber mal langsam mit den jungen Pferden!″.
Lutz: Okay. Es ist eine Utopie; ich verstehe.
Lena: Genau. Und er sagt, dass wir Utopien brauchen, dass wir seit einiger Zeit viel zu wenig davon haben.
Lutz: Aha. Und was meint er damit?
Lena: Er beschreibt zunächst mal den Ist-Zustand. Wir leben zur Zeit in der neoliberalistischen Version des Kapitalismus.
Lutz: Was immer das auch heißen mag…
Lena: Ich glaube, es geht vor allem um die Freiheit des Marktes, der sich selbst – also möglichst ohne Einmischung des Staates – regulieren sollte. Die Grundidee ist wohl, dass es einen sogenannten ″Homo oeconomicus″ gibt, dass der Mensch also immer nach seinem Vorteil handelt und stets versucht, den größtmöglichen Nutzen herauszuschlagen, und dass man diesem Wesen nur freie Hand lassen muss, damit sich automatisch alles zum Guten wendet, weil sein Nutzen auch der Nutzen der Allgemeinheit ist.
Lutz: Also, wenn ein Geschäftsmann sich ein Imperium aufbaut, tut er das, weil er seinen Nutzen maximieren will, aber mit dem Wachstum seiner Firma wächst gleichzeitig der Wohlstand für alle, weil er die Wirtschaft ankurbelt, Arbeitsplätze schafft und so weiter?
Lena: Ja, genau. So weit die Theorie. Bis in die 1970er Jahre hatte Amerika zum Beispiel eigentlich einen Sozialstaat mit sehr hohen Steuersätzen für die Reichen – teilweise bis zu 90 Prozent! Allerdings war nicht alles rosig. Es gab wohl trotzdem viel Armut.
Lutz: Und warum?
Lena: Tja, das weiß ich auch nicht so genau. Jedenfalls gab es einige Wirtschaftswissenschaftler, die dem damaligen Präsidenten, Richard Nixon, rieten, am besten ein bedingungsloses Grundeinkommen einzuführen. Sie sagten, das sei notwendig, um den Wirtschaftskreislauf am Leben zu erhalten, denn die Leute bräuchten schließlich Geld, um all die in den Fabriken produzierten Konsumgüter zu kaufen. Nixon fand die Idee gut, und fast hätte Amerika also ein Grundeinkommen eingeführt. Es scheiterte aber schließlich doch. Übrigens war der Grund für die Armut wohl die fortschreitende Maschinisierung der Arbeitsprozesse. Maschinen übernehmen immer mehr Arbeiten und die Leute werden entlassen. Die Fabriken produzieren immer mehr Güter, aber die Arbeiterschaft schrumpft. So wird der Erlös für die Güter nicht mehr verteilt; das Geld wandert direkt in die Taschen der Maschinenbesitzer.
Lutz: Aber du sagtest doch, dass damals die Reichen so viel Steuern zahlten. Wo ist das Geld denn gelandet?
Lena: Das weiß ich eben nicht; aber anscheinend nicht bei den Leuten, die es brauchten. Deswegen hat man wohl das Grundeinkommen vorgeschlagen.
Lutz: Und wieso ist das gescheitert?
Lena: Zunächst haben die Demokraten es indirekt torpediert, weil sie einen höheren Betrag wollten als den von Nixon vorgeschlagenen. Dann gab es einen Mann in Nixons Administration, der das Projekt verhindern wollte. Dieser Mensch hat Nixon eine uralte Studie aus dem 18. Jahrhundert vorgelegt, nach der ein Grundeinkommen nicht funktionierte, weil die Leute angeblich sich alle auf die faule Haut legten und auch ansonsten ein allgemeiner Verfall der Sitten einkehrte. Diese Studie stellte sich sehr viel später als gefälscht heraus, aber Nixon glaubte ihr. Dabei gab es schon moderne Studien, die alle sehr positive Ergebnisse gezeitigt hatten. Endgültig begraben wurde die Idee 1978, als eine neue Studie in Seattle eine erhöhte Scheidungsrate ergab. Das ging natürlich nicht im puritanischen Amerika. Auch dieses Ergebnis stellte sich später als falsch heraus – die Scheidungsrate war gar nicht erhöht gewesen.
Lutz: War diese Studie auch absichtlich verfälscht worden?
Lena: Das sagt Bregman nicht. Er spricht von einem Fehler in der Statistik. Aber wer weiß? Jedenfalls reichte die angeblich erhöhte Scheidungsrate aus, um das Projekt aufzugeben. Daran kann man vielleicht ablesen, dass die Zeit noch nicht reif war. Selbst wenn es tatsächlich mehr Scheidungen gegeben hätte, hätte man schließlich auch mutmaßen können, dass die Frauen, die durch das Grundeinkommen unabhängig geworden waren, sich nun endlich von ihren despotischen Männern trennen konnten, was ja nicht das Schlechteste gewesen wäre. Und heute würde man es vielleicht (aber auch nur vielleicht!) so sehen und hätte deswegen das Projekt nicht abgeblasen. Aber damals erschien eine erhöhte Scheidungsrate noch zu radikal. Da sieht man schon, dass alles zusammenspielen muss, dass eine Idee nicht unabhängig ist von anderen. Die Idee der Gleichberechtigung war damals noch nicht so fortgeschritten und das verhinderte indirekt die Idee des Grundeinkommens.
Lutz: Interessant. So etwas Ähnliches sagt Naomi Klein in ihrem Buch ″Gegen Trump″. Wenn alle Benachteiligten und Minderheiten sich zusammenschlössen – also Schwarze, Frauen, Schwule und Lesben, Klimaschützer usw. -, dann wären sie gar keine Minderheit mehr; dann wären sie die Mehrheit.
Lena: Ja, stimmt.
Lutz: Es geht immer um die kritische Masse oder vielleicht um eine Strömung – auch bei Ideen. Viele müssen dieselbe Idee haben, und wenn es mehrere Ideen gibt, müssen diese in eine ähnliche Richtung fließen, sonst versickert alles wieder im Flussbett der Geschichte.
Lena: Schön gesagt!
Lutz: Oder?!
Lena: Aus dir kann noch was werden!
Lutz: Danke! Wenn ich groß bin, möchte ich aber auch so schlau sein wie du.
Lena: Das schaffst Du!
Lutz: Sag mal, diese Wirtschaftswissenschaftler, die das Grundeinkommen vorschlugen – glaubten die auch an den ″Homo oeconomicus″?
Lena: Ich glaube schon. Diese wirtschaftswissenschaftliche Strömung, die sich für einen freien Markt aussprach, wurde in Amerika von einem Mann angeführt – Milton Friedman. Der hat mal gesagt, dass es nichts Besseres für eine Idee gäbe als eine Krise. Während einer Krise schauen die Leute in ihren Notschubladen nach, was da für Pläne liegen, und wenn einer dieser Pläne halbwegs vielversprechend aussieht, dann wird er ausprobiert. Und genauso geschah es 1973.
Lutz: Ölkrise?
Lena: Genau. Jetzt schlug die Stunde von Friedman und seinen Kollegen, die nun ihren Plan aus der Schublade holen und ausprobieren konnten.
Lutz: Und wie sah der aus?
Lena: Darum geht es in dem Buch eigentlich nicht. Aber ich nehme an, die Grundidee war Gewinnoptimierung. Der Finanzmarkt fing an zu wachsen und übernahm quasi das Kommando. Und das ist das System, was wir heute noch haben. Aber auf dem Finanzmarkt werden keine Werte geschöpft. Es wird nur Geld von einem Ort zum anderen transferiert. Meistens wird es denen abgenommen, die tatsächlich Werte schaffen, also etwas produzieren oder sozial beitragen. Die Arbeiter werden schlecht bezahlt, weil sie ja angeblich so wenig zum BIP beitragen, während die Banker von sich selbst behaupten (und in vielen Fällen wohl auch tatsächlich glauben), ohne sie würde die Wirtschaft zusammenbrechen und deswegen müssten sie so viel verdienen.
Lutz: Das ist doch genau das, was die Wirtschaftswissenschaftler sagen - dass die Großkapitalisten so viel zum Wohlstand beitragen, indem sie einfach nur ihre Gewinne optimieren.
Lena: Ja, aber sie optimieren ihre Gewinne ja nicht auf irgendeine wundersame Weise. Sie haben keinen Zauberspruch, mit dem ihre Fabriken plötzlich mehr in kürzerer Zeit produzieren. Sie optimieren ihre Gewinne, indem sie immer mehr Arbeit von Maschinen verrichten lassen und dafür die Arbeiter entlassen oder ihnen weniger bezahlen, weil sie inzwischen nur noch einen Knopf drücken müssen und dafür darf man ja nicht so viel verdienen. Aber es geht gar nicht primär um die Fabrikbesitzer, sondern um die Leute und Firmen, die auf dem Finanzmarkt unterwegs sind. Dort wird Geld verdient, was es oft gar nicht gibt. Es wird nichts generiert. Die echten Werte werden also von sehr wenigen Menschen und vielen Maschinen geschaffen, und zwar im Überfluss! Jedes Jahr wird tonnenweise Nahrung weggeworfen. Aber verwaltet werden diese Werte auf dem Finanzsektor. Daraus ergibt sich ein weiteres Problem. Die Leute wollen jetzt nämlich alle an der Wall Street arbeiten, weil man dort einen Haufen Geld verdienen kann. Dafür muss man studieren und halbwegs intelligent sein. Das heißt, dass ein Haufen begabter und gut ausgebildeter Leute auf dem Finanzmarkt landen und sich dort überlegen, wie sie irgendwelche faulen Derivate an den Mann bringen, statt in der Medizin zu forschen oder sonst was.
Lutz: Hm. Und wenn man für beides zu blöd ist?
Lena: Dann kann man immer noch bei Amazon als Fahrer anfangen.
Lutz: Es muss doch irgendwas dazwischen geben.
Lena: Das ist genau das Problem. Die Mittelschicht wird immer kleiner. Die Arbeiterklasse wurde zuerst von den Maschinen verdrängt, und jetzt, da die Computer immer intelligenter werden, geht es anderen Berufen an den Kragen. Viele Bürojobs können inzwischen von Maschinen gemacht werden. Und viele Berufe, die von Menschen ausgeübt werden, sind Studien zufolge wohl sehr unbefriedigend. In England zum Beispiel sind 40% der Leute der Meinung, dass sie mit ihrem Beruf keinen sinnvollen Beitrag zur Gesellschaft leisten.
Lutz: 40 Prozent? Das ist viel!
Lena: Das ist viel! Und das sind also diese Berufe, die keine Werte schaffen, wozu auch der Finanzsektor gehört.
Lutz: Wir sind vom Thema abgekommen. Wir sprachen doch eigentlich vom Grundeinkommen.
Lena: Das war 1978, nach dieser Seattle-Studie mit der angeblich erhöhten Scheidungsrate, vom Tisch.
Lutz: Was war eigentlich so toll am Grundeinkommen? Du sagtest, die Studien hätten alle sehr positive Ergebnisse gezeigt.
Lena: Es zeigte sich, dass die Leute gesünder wurden; es gab weniger Kriminalität, auch weniger häusliche Gewalt; die Kinder wurden besser in der Schule, und außerdem trat auch keine der von den Skeptikern befürchteten Verhaltensweisen auf, also zum Beispiel legten sich die Leute gar nicht auf die faule Haut, sondern arbeiteten genau so viel wie vorher. Und bezahlbar ist es auch. Im Gegenteil – es spart Geld ein.
Lutz: Wie das denn?
Lena: Zum Beispiel dadurch, dass die Leute gesünder werden. Das senkt die Kosten im Gesundheitssystem. Und wenn die Kriminalitätsrate sinkt, dann brauchen wir weniger Geld für Polizei, Gerichte und Gefängnisse. Und wenn wir ein bedingungsloses Grundeinkommen haben, brauchen wir den ganzen Verwaltungsapparat für die Sozialleistungen nicht mehr. Jeder bekommt eine Grundsicherung ohne Diskussion, ohne Formular, ohne Behördengang.
Lutz: Das klingt doch eigentlich ganz vernünftig.
Lena: Eben. Bregman sagt auch, dass die Diskussion um das Grundeinkommen frustrierend ist, weil manche Befürworter es als eine moralische Verpflichtung beschreiben, indem sie sagen, es müsse gerecht zugehen in der Welt, und die Gegner das in Frage stellen, weil sie finden, dass es doch gerade ungerecht sei, dass jemand ohne zu arbeiten Geld bekommt, während sich aber beide Seiten klar machen müssten, dass ein Grundeinkommen erstens ein probates Mittel zur Armutsbekämpfung wäre, zweitens sich im Grunde selbst finanzieren, ja sogar noch Ressourcen mobilisieren würde, und drittens tatsächlich durchführbar wäre. Und das sind alles – wie du sagst – vernünftige Gründe. Man braucht gar keine Moral.
Lutz: Okay. Und wie ist das mit der 15-Stunden-Woche?
Lena: Bregman zitiert einen Haufen Leute, unter anderen Karl Marx, die sich alle für weniger Arbeit und mehr Freizeit aussprachen. Sie schlugen vor, den technischen Fortschritt dafür zu nutzen, die Menschen von sinnlos schwerer und zeitaufwändiger Schufterei zu befreien. Und im Jahr 1930 prognostizierte John Keynes - das ist ein berühmter britischer Wirtschaftswissenschaftler - dass man im Jahr 2030 nur noch 15 Stunden pro Woche arbeiten und dass das Hauptproblem der Menschen in Langeweile bestehen werde. Und bis in die 1960er waren viele davon überzeugt, dass Keynes Recht behalten würde. Es gab sogar eine Fernsehserie, Die Jetsons, wo der Ehemann (eine Art Fred Feuerstein, nur nicht in der Steinzeit, sondern in der Zukunft) eines Tages nach Hause kommt und sich beschwert, dass sein Chef ihn heute ganze zwei Stunden (statt nur die übliche eine Stunde) habe arbeiten lassen, woraufhin seine Frau ausruft: ″Der spinnt wohl! Ausbeuterbetriebe sind abgeschafft!″
Lutz: Lustig!
Lena: Ja. Aber daran kann man schon sehen, dass es zwar diese Tendenz zu weniger Arbeit gab, aber es für die meisten Leute trotzdem noch eine absurde Vorstellung gewesen wäre, nur eine Stunde am Tag zu arbeiten.
Lutz: Sonst würde man es nicht so lustig finden.
Lena: Genau. Es herrschte – und herrscht – immer noch der Gedanke vor, dass Freizeit gleich Faulheit ist und dass Faulheit etwas Schlechtes, ja eigentlich Sündiges wäre.
Lutz: Ja, wir denken, dass wir unseren Lebensunterhalt verdienen müssen. Ist ja auch so. Wenn ich kein Geld verdiene, kann ich nicht leben. Jemand müsste mir Geld geben. Aber wenn dieser Jemand für dieses Geld schwer schuftet, dann ist es doch ungerecht.
Lena: Das ist dieselbe Diskussion wie beim Grundeinkommen. Aber da hat sich gezeigt, dass das Grundeinkommen sich selbst finanzieren würde. In der Welt der Jetsons müssen alle nur eine Stunde pro Tag arbeiten, weil mehr nicht nötig ist; der Rest wird von Maschinen erledigt. Und genau das hatte Keynes im Sinn, als er die 15-Stunden-Woche vorhersagte; er dachte daran, dass die Maschinen die meiste Arbeit übernehmen würden. Und genau so ist es doch auch. Immer mehr Arbeiten werden von Maschinen gemacht. Aber seit den 1980er Jahren arbeiten wir sogar wieder mehr. Und warum?
Lutz: Weil der Erlös der Maschinenarbeit nicht umverteilt wird?
Lena: Genau! Nur die Maschinenbesitzer verdienen.
Lutz: Na ja, sie haben eben die Maschine irgendwann gekauft. Mit Geld, das sie irgendwie verdient haben. Da wäre es doch ungerecht, wenn sie an der Maschine nicht ordentlich verdienen würden.
Lena: Ja, so sehen wir das. Es geht immer um das ′Verdienen′. Der Besitzer hat die Maschine also gekauft. Er hat sie nicht selbst erfunden und gebaut. Bregman spricht davon, dass wir ein Recht darauf haben, weniger zu arbeiten, weil unsere Vorgenerationen diese Maschinen erfunden haben, weil der technische Fortschritt der ganzen Menschheit gehört und wir alle dessen Früchte ernten dürfen. Wenn man es so betrachtet, dann hat kein Mensch das Recht, eine solche Maschine zu besitzen und allein davon zu profitieren. Sie kann ihm nicht gehören, weil sie auf einer Idee basiert, die ein pfiffiger Erfinder mal gehabt hat, und Ideen sind Allgemeingut – oder sollten es zumindest sein. Und der Erfinder hätte seine Maschine nicht bauen können, wenn er nicht seinerseits von allgemein verfügbaren Ideen profitiert hätte, die seine Vorfahren in die Welt gesetzt hatten. Der technologische Fortschritt ist eben ein Fortschreiten; ein Schritt kommt nach dem anderen; eine Erfindung folgt auf die andere. Unsere technischen Errungenschaften gehören also uns allen. Es dürfte vielleicht gar keine Patente geben.
Lutz: Hm. Vielleicht so wie Grundbesitz? Unsere Ideen sind wie die Natur; die gehört auch nicht einem Einzelnen. Niemand dürfte eigentlich sagen, dass ein Stück Land nun ihm gehört und nur er die Äpfel von dem Baum dort pflücken darf.
Lena: Genau. Das ist eigentlich absurd, wenn man genau drüber nachdenkt. Wir denken aber meistens nicht so genau darüber nach. Und deswegen haben wir immer noch das Gefühl, es wäre in Ordnung, dass jemand ein Stück Land - ein Stück des Planeten! - ″besitzt″. Und deshalb denken wir, es wäre normal, dass ein Mensch eine Maschine kauft und diese dann arbeiten lässt, ohne den Ertrag mit anderen zu teilen.
Lutz: Okay. Du sagtest vorhin, dass wir seit den 1980ern wieder mehr arbeiten. Ist das wirklich so?
Lena: Ja. In einigen Ländern, zum Beispiel den USA, arbeiten die Leute tatsächlich wieder mehr als 40 Stunden pro Woche. Aber auch in Ländern, wo das nicht der Fall ist, wird trotzdem mehr gearbeitet als früher, und zwar pro Haushalt. Das hat damit zu tun, dass die Frauen nun ebenfalls arbeiten. Früher hat das Gehalt des Mannes gereicht, um die Familie zu ernähren – seine 40 Arbeitsstunden waren genug. Aber heute gehen die Frauen teilweise auch arbeiten, und so kommt ein Haushalt auf mehr Arbeitsstunden als früher. Würde ein Gehalt ausreichen, dann könnten beide zusammen 40 Stunden arbeiten und sich abwechselnd um den Haushalt kümmern. Das ist aber nicht der Fall. Sie arbeiten beide zusammen 60 oder 80 Stunden und engagieren jemanden, der die Hausarbeit macht. Darüber spricht er übrigens auch sehr ausführlich in dem Buch – über all die Arbeiten, die nicht entlohnt werden, wie zum Beispiel Kinderbetreuung, Hausarbeit, Altenpflege usw. Wenn diese Leistungen nämlich von Familienmitgliedern übernommen werden, dann fließen sie nicht ins Bruttoinlandsprodukt ein, was dieses völlig verfälscht. Aber das ist eine andere Baustelle. Außerdem gibt es noch weitere Gründe, warum wir mehr arbeiten, und das hat mit den sinnlosen Jobs zu tun, die viel Zeit kosten, aber nichts generieren. Bregman schreibt, dass wir Arbeit umdefinieren müssten, dass es nicht um Quantität, sondern um Qualität gehen sollte. Qualitativ hochwertige Arbeit kann kurz sein, aber sie trägt viel mehr bei als endlose Stunden in unsinnigen Jobs. Aber auch das ist nochmal ein eigenes Thema. Du musst das Buch selbst lesen.
Lutz: Also gut. Wir arbeiten im Grunde zu viel, weil die Maschinen eigentlich so viel übernehmen, aber das kommt den meisten Menschen nicht zugute. Wenn also besser verteilt würde, könnten wir weniger arbeiten. Und wäre das gut? Wie ist das mit der befürchteten Langeweile? Vielleicht würden wir dann alle den ganzen Tag nur noch vor der Glotze hängen.
Lena: Genau mit dieser Frage beschäftigt er sich. Er zählt einen Haufen Vorteile auf, die wir durch kürzere Arbeitszeit hätten. Studien belegen wohl ziemlich eindeutig, dass die meisten Menschen sich am liebsten ihren Beziehungen widmen. Arbeit kommt in der Liste der Lieblingsaktivitäten ganz weit unten. Wenn man sich also jetzt wieder daran erinnert, dass die Leute so viel arbeiten müssen und kaum dazu kommen, sich um ihre Kinder und überhaupt um ihre Beziehung zu kümmern, dann kann man davon ausgehen, dass hier ein emotionales Defizit entsteht. Und Defizite kosten am Ende immer mehr. Wir tendieren nämlich dazu, unsere Defizite irgendwie doch aufzufüllen, wobei hier die Betonung auf ″irgendwie″ liegt. Wenn wir unsere Bedürfnisse also nicht direkt erfüllen können, greifen wir zu Ersatzprodukten. Und da gibt es ja eine Menge Angebote: Shopping, Reisen, Essen – Konsum in jeder Form. Und der Konsum kostet wieder Geld, weswegen wir wiederum noch mehr arbeiten müssen.
Lutz: Ganz schön absurde Spirale. Eigentlich wollen wir Zeit mit unseren Freunden, Geliebten und Kindern verbringen, was wir aber nicht können, weil wir so viel arbeiten müssen. Um den Schmerz dieses Defizits zu lindern, müssen wir konsumieren und deshalb noch mehr arbeiten. Und wir engagieren außerdem noch Fremde, die sich um unsere Kinder kümmern, die wiederum deswegen – weil sie sich für Geld um unsere Kinder kümmern müssen – sich nicht um ihre eigenen Kinder kümmern können. Wo hört das auf?
Lena: Genau. Wenn alle weniger arbeiten würden und Zeit hätten, sich um ihre eigenen Kinder und um ihre anderen Beziehungen zu kümmern, wären alle zufriedener. Der Wohlstand, der durch den technologischen Fortschritt allen Menschen zugute kommen sollte, wird oft falsch verstanden. Wir denken, wir sind wohlhabend, wenn wir ein iPhone besitzen, aber wir sind wohlhabend, wenn wir mehr freie Zeit haben, um das zu tun, was wir gerne tun.
Lutz: Okay. Also weniger Arbeit bedeutet mehr Zufriedenheit. Was für Vorteile gibt es noch?
Lena: Wenn wir weniger arbeiten müssen, dann arbeiten wir mehr freiwillig. In den Ländern mit kürzeren Arbeitswochen gibt es mehr Leute, die freiwillige Dienste leisten, z.B. Altenpflege und andere Sozialdienste, die sonst von anderen Leuten gegen ein Gehalt geleistet würden. Wenn diese Arbeiten aber freiwillig gemacht werden, kann man davon ausgehen, dass es für die Ausführenden zur Zufriedenheit beiträgt und somit auch für die Empfänger dieser Leistungen angenehmer ist. So etwas nennt man wohl ′Soziales Kapital′, und das ist in Ländern mit kürzeren Arbeitszeiten höher als anderswo.
Lutz: Das ist interessant. Daran kann man ja sehen, dass die Leute sich gar nicht auf die faule Haut legen, wenn sie nicht arbeiten müssen – wenn sie freiwillig Dienste leisten, meine ich.
Lena: Ja, genau! Das ist auch wieder ein Argument für das Grundeinkommen.
Lutz: Ja. Und es zeigt auch, dass wir nicht alle vor der Glotze enden, wenn wir weniger arbeiten.
Lena: Im 19. Jahrhundert wurde gegen die Reduktion der 70-Stunden-Woche, gegen das allgemeine Wahlrecht und gegen eine Erhöhung der Löhne das Argument ins Feld geführt, dass die Leute sich dann ganz bestimmt dem Suff ergeben würden. Aber das ist nicht eingetreten. Es war sogar so, dass in den industrialisierten Städten mit niedrigen Löhnen, brutalen Arbeitszeiten und null Mitbestimmungsrecht viel mehr getrunken wurde als anderswo. Heute ist es mit dem Fernsehen ähnlich. In Japan und den USA, wo sehr viel gearbeitet wird, sitzen die Leute mehr vor dem Fernseher; in den USA wird durchschnittlich bis zu fünf Stunden Fernsehen am Tag geschaut. Wir müssen uns von der Vorstellung verabschieden, dass Freizeit irgendwas mit Luxus oder Laster zu tun hätte. Vielmehr ist sie ein Grundbedürfnis. Bregman sagt, dass es wohl kaum jemanden gibt, der auf dem Sterbebett bereut, dass er zu wenig Fernsehen geschaut oder nicht mehr Zeit im Büro verbracht hätte. Und dann zitiert er noch Bertrand Russell, und das fand ich wirklich überzeugend.
Lutz: Der alte Fuchs! Was hat er gesagt?
Lena: Kennst Du Bertrand Russell?
Lutz: Nur den Namen. Du?
Lena: Ich auch nur den Namen.
Lutz: Also, was hat er gesagt?
Lena: Der sagte, dass jemand, der sich nicht den ganzen Tag müde geschuftet hat, in seiner Freizeit noch viel Energie haben und deshalb gar nicht auf die Idee kommen wird, diese Energie in leere und passive Formen des Zeitvertreibs zu investieren.
Lutz: Stimmt. Ich schaue oft dann fern, wenn ich müde bin und eigentlich auch schlafen könnte.
Lena: Ja. Und ich schaue fern, wenn ich traurig bin, also unzufrieden. Wenn ich aber einen guten Tag hatte, dann brauche ich das abends nicht so sehr.
Lutz: Okay. Jetzt aber will ich wissen, wie das mit den offenen Grenzen ist. Was ist das für eine Räuberpistole? Und wie sollte das nicht ins weltweite Chaos führen?
Lena: ″Weltweit″ ist genau das Stichwort. Die Wirtschaft muss global betrachtet werden. Der Wohlstand eines Landes ist nicht unabhängig von anderen Ländern. Die Ungleichheit mag von Land zu Land verschieden sein. In Amerika zum Beispiel herrscht große Ungleichheit. Einige Reiche, viele Arme und immer weniger dazwischen. Anderswo mag es besser sein, aber global gesehen ist es katastrophal.
Lutz: Du meinst wegen der Drittweltländer?
Lena: Ja.
Lutz: Aber die Industrienationen leisten doch Entwicklungshilfe.
Lena: Dazu steht einiges in dem Buch. Zum Beispiel werden pro Jahr etwa 135 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe geleistet.
Lutz: Weltweit?
Lena: Ja.
Lutz: Das hört sich gar nicht so viel an.
Lena: Na ja, immerhin macht das etwa 5 Billionen in den letzten 50 Jahren.
Lutz: Das hört sich wiederum viel an.
Lena: Ja. Andererseits haben die Kriege im Irak und in Afghanistan ungefähr genau so viel gekostet.
Lutz: Was?!
Lena: Ja. Steht jedenfalls in dem Buch.
Lutz: Also gut. 5 Billionen Entwicklungshilfe – das ist doch mal was.
Lena: Ja, aber niemand weiß so recht, ob es geholfen hat. Es kann sein, dass das alles nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung schätzt, dass die armen Länder pro Jahr drei mal so viel Geld wegen Steuerhinterziehung verlieren wie sie an Entwicklungshilfe bekommen.
Lutz: Hoppla! Das ist nicht gut.
Lena: Nee. Das Problem sind die Steueroasen.
Lutz: Dass heißt, wenn man die Steueroasen dicht machen würde, könnte man mit den Spenden aufhören, und die Länder hätten trotzdem immer noch mehr als vorher?
Lena: Genau! Außerdem gibt es jede Menge Berechnungen von Wirtschaftswissenschaftlern, die sich erstaunlich einig sind, dass die Öffnung der Grenzen zu einem signifikanten globalen Wirtschaftszuwachs von bis zu 147% führen würde.
Lutz: Hm. Hört sich trotzdem gewagt an.
Lena: Natürlich. Andererseits sind Grenzen etwas relativ Neues. Kurz nach Ende des ersten Weltkrieges wurde auf einer internationalen Konferenz die Einführung von Reisepässen beschlossen. Und heute leben nur 3% der Weltbevölkerung außerhalb ihres Geburtslandes. Die meisten Waren und Informationen dagegen werden grenzüberschreitend weltweit gehandelt. Man kann also ein Produkt nach Übersee verkaufen, aber nicht die eigene Arbeitskraft. Und so sind die meisten Menschen auf der Welt gezwungen, ihre Arbeitskraft zu einem sehr schlechten Preis zu verkaufen, weil in den meisten Ländern die Löhne so niedrig sind. So werden Grenzen zu dem wichtigsten Faktor für die weltweite Ungleichheit. Die reichsten 8% verdienen die Hälfte des Welteinkommens, und dem reichsten 1% gehört die Hälfte des weltweiten Reichtums.
Lutz: Wenn plötzlich alle die gleichen Löhne hätten - was würde dann passieren? Würde dann nicht alles zusammenbrechen?
Lena: Anscheinend nicht. In dem Buch werden ja diese Studien zitiert, die im Fall einer Grenzöffnung einen Wirtschaftszuwachs voraussagen.
Lutz: Vielleicht weil dann die Leute, die jetzt mehr verdienen, auch mehr konsumieren können?
Lena: Vielleicht.
Lutz: Ich frage mich, ob die Grenzöffnung allein schon diese Veränderung herbeiführen würde. Was ist mit der Umverteilung?
Lena: Wahrscheinlich müsste man das auch weiter betreiben. Also, die Steueroasen schließen und die Reichen dazu bringen, ihre Steuern zu bezahlen. Aber ich glaube, die Vorhersage des Wirtschaftswachstums ist sogar unabhängig davon.
Lutz: Was ist eigentlich mit den üblichen Aufschreien gegen Migration? Ich könnte mir vorstellen, dass viele Leute dagegen sind, die ganzen armen Schlucker in ihre Länder zu lassen, weil sie eine Heidenangst hätten, dass sie dann selber nicht mehr genug haben.
Lena: Oh ja! Da hat er einen ganzen Abschnitt. Die üblichen Ängste. Zum Beispiel, dass alle Einwanderer kriminelle Terroristen sind, die nicht arbeiten wollen, oder wenn sie arbeiten wollen, dann nehmen sie uns die Arbeit weg bzw. drücken unsere Löhne. Außerdem lösen sie mit ihren fremden verlotterten Sitten unsere schöne Sozialstruktur auf, nisten sich für immer bei uns ein und gehen nie wieder zurück in ihre Heimat.
Lutz: Ja, genau! Mein ich doch – das faule, lichtscheue Gesindel. Was sagt er dazu?
Lena: Er nimmt das alles schön der Reihe nach auseinander. Aber ich kriege es im Einzelnen nicht mehr zusammen. Da musst du das Buch schon selber lesen. An eine Sache kann ich mich aber erinnern – die Befürchtung, dass Migranten uns die Arbeit wegnehmen. Er sagt, dass diese Angst aus der Vorstellung komme, der Arbeitsmarkt wäre so was wie die Reise nach Jerusalem, wo es nur eine begrenzte Anzahl an Stühlen gibt. Dem sei aber nicht so. Mehr Arbeiter würden auch mehr Verbrauch bedeuten und damit auch mehr Nachfrage und mehr Arbeitsplätze. Wenn man also den Vergleich mit dem Spiel heranziehen möchte, dann wäre es so, als ob die Neuankömmlinge ihre eigenen Stühle mitbrächten.
Lutz: Verstehe. Der Mensch ist nicht nur ein Ressourcenfresser; er ist selber auch eine Ressource. Grenzöffnung bringt also doch sofort einen Zuwachs.
Lena: Ja, genau! Das erinnert mich an noch etwas aus dem Buch, was ich sehr schön fand. Es geht um die Armut, und zwar dass Armut dumm macht.
Lutz: Jetzt weiß ich endlich, warum ich nichts auf die Reihe kriege. Ich dachte immer, ich bin arm, weil ich nichts auf die Reihe kriege. Aber du sagst, es ist in Wahrheit umgekehrt? Ich kriege nichts auf die Reihe, weil ich arm bin und also verblödet?
Lena: In deinem Fall bin ich nicht sicher. Aber generell ist das der Gedanke. Es gab eine Studie, in der eine Gruppe von Bauern untersucht wurde, irgendwo im Himalaya oder so, die das halbe Jahr über reich sind und die andere Hälfte des Jahres arm. In beiden Jahreshälften wurde ein IQ-Test gemacht, und in der armen Hälfte schnitten die Leute viel schlechter ab; ich glaube, um bis zu 14 IQ-Punkte. Der Grund ist die dauernde Existenzangst, wegen der die Leute nicht klar denken können. Armut macht also dumm.
Lutz: Hm. Wieso haben die denn Existenzangst, wenn sie wissen, dass in sechs Monaten wieder alles gut ist? Und wieso legen sie in der guten Zeit nicht was für die schlechte Zeit zurück? Ich meine, in der guten Zeit sollen sie doch angeblich so schlau sein.
Lena: Ja, stimmt. Vielleicht sind sie von Anfang an nicht so schlau. Der Punkt ist aber, dass sie schlauer sind, wenn sie reich sind.
Lutz: Okay. Und nun?
Lena: Wenn Armut also dumm macht, dann…
Lutz: … macht Geld klug?
Lena: Genau!
Lutz: Hm. Ich weiß nicht. Was ist mit Donald Trump?
Lena: Ja, und? Stell dir vor, er hätte kein Geld.
Lutz: Au Backe! Dann müsste er wahrscheinlich in ein Heim.
Lena: Aber darum geht′s gar nicht. Es geht darum, dass die Armen klüger sein könnten. Und es geht darum, dass wir als Gesellschaft ein ungeheures Potential brachliegen lassen. Indem wir die Armut abschaffen, zum Beispiel durch ein Grundeinkommen, und den Menschen also die verdummende Existenzangst nehmen, legen wir Ressourcen frei. Das ist ein weiterer Grund, warum das Grundeinkommen sich selbst finanziert.
Lutz: Das Buch hat mich überzeugt. Wenn ich 14 IQ-Punkte dazugewinnen kann, dann mache ich alles mit. Ich kann jeden Punkt gebrauchen. Aber hör mal: Wenn das alles so einleuchtend ist, wieso wird es dann nicht gemacht? Was sagt Bregman denn dazu?
Lena: Er spricht davon, dass Ideen sich entwickeln müssen. Sie fangen als Hirngespinste an, die verlacht werden.
Lutz: Als Utopien.
Lena: Ja. Sie gehen nicht von der Mitte der Gesellschaft aus, nicht vom Mainstream, sondern entstehen an den Rändern; sie werden meist von einzelnen Außenseitern konzipiert. Nach ihrer Geburt müssen sie dann einen ziemlich langen und steinigen Weg vom Rand zur Mitte zurücklegen. Sie müssen im Bewusstsein der Leute sich entwickeln, von verrückt zu ungewöhnlich zu vorstellbar zu selbstverständlich. Friedman war mit seinen Ideen auch lange ein Außenseiter, bis dann die Ölkrise ihm eine Chance gab. Heute sind wir an dem Punkt, da Friedmans Idee der Standard ist: freier Markt, der alles reguliert und Wohlstand schafft, schwacher Staat usw. Diese Idee hat alle überzeugt, sogar die Linken.
Lutz: Es scheint ja auch lange gut gegangen zu sein. Der Wohlstand ist tatsächlich angewachsen.
Lena: Ja. Allerdings gibt es diese haarsträubende globale Ungleichheit. Das System basiert im Grunde – genau wie der Kolonialismus – auf Ausbeutung, erstens Ausbeutung des Planeten und zweitens der Menschen. Und dieses Argument, dass es ″funktioniert″ - das ist wohl auf einer tieferen Ebene mit der kapitalistischen Idee verknüpft. Jedenfalls meine ich, das so aus dem Buch verstanden zu haben.
Lutz: Aha. Wie das denn?
Lena: Es ist ein pragmatischer, technokratischer Ansatz. Alles wird als technisches Problem definiert, das mit Berechnungen zu lösen ist. Wenn wir irgendwelche Probleme mit dem BIP haben, dann müssen wir nur hier und da irgendwelche Stellschrauben verdrehen – Zinssätze hoch, runter, oder was weiß ich – und schon läuft die Maschine wieder. Wir glauben alle daran, dass der Kapitalismus eine perfekte Maschine ist, die nur gut geölt werden muss, damit alles bestens funktioniert. Dieser Glaube ist verständlich, weil es eben sehr lange gut gegangen ist. Aber die Frage ist, ob es so lange gut ging, weil die Maschine an und für sich so toll konstruiert ist und unsere genialen Ökonomie-Experten sie so gut in Schuss halten, oder ob der Grund nicht einfach der ist, dass wir einen solchen Überschuss an Ressourcen zu Verfügung hatten, nämlich das Erdöl. Und so lange wir in einer Industriegesellschaft lebten, wo noch Maschinen aus Stahl, angetrieben mit Erdöl, irgendwelche Sachen hergestellt haben, lief es gut. Die Menschen hatten Arbeit, und der Reichtum wurde umverteilt – jedenfalls eine Weile. Dann fing dieses System an, auseinanderzufallen, und wir haben auf totale Gewinnoptimierung gesetzt und uns mehr und mehr auf den Finanzmarkt konzentriert. Und inzwischen ist die Industrie nicht mehr unsere Haupteinnahmequelle.
Lutz: Ah, du meinst inzwischen wird mehr Geld mit Informationstechnologie verdient.
Lena: Genau. Mit Informationstechnologie, aber vor allem auch mit Information. Wir stellen gar keine Produkte mehr her, sondern verschieben ein Gut, das es schon gibt, nämlich Information, permanent hin und her.
Lutz: So wie das Geld auf dem Finanzmarkt?
Lena: Ja. So, irgendwie. Man schiebt nur noch virtuelles Geld oder virtuelle Information hin und her und alles scheint zu wachsen und zu wachsen, und irgendwann knallt es. Das ist 2008 passiert.
Lutz: Ach ja, genau! Eine echte Krise. Das hätte uns doch einen Schritt voran bringen können!
Lena: Ja, darüber spricht Bregman auch in dem Buch. Er sagt, wir haben aus dieser Krise leider nicht sofort etwas gelernt, weil es noch keine alternativen Ideen in der Schublade gab. 2008 waren wir noch total vom Finanzkapitalismus überzeugt. Wir konnten uns überhaupt nichts anderes vorstellen. Und so haben wir gedacht, wir müssten nur lange genug an den Stellschrauben drehen, bis alles wieder läuft.
Lutz: Wir hatten keine Utopien.
Lena: Genau. Wir hatten keine Vision von etwas anderem - keinen alternativen Ausblick.
Lutz: Der Finanzkapitalismus ist so was wie das wirtschaftsphilosophische ″Ende der Geschichte″.
Lena: Was immer das auch heißen soll. Aber wenn du damit meinst, dass die Leute aufgehört haben nachzudenken, dann ja.
Lutz: Wir brauchen völlig verrückte, abstruse, total durchgeknallte und unrealistische Ideen!
Lena: Du sagst es!
Lutz: Und dann müssen wir es irgendwie schaffen, diese verrückten Ideen in den Mainstream zu bringen. Wie soll das gehen?
Lena: Tja, das ist wohl die große Frage.
Lutz: Was sagt denn Bregman?
Lena: Zunächst mal führt er das Beispiel des Frauenwahlrechts-Referendums in der Schweiz an. Beim ersten Versuch Ende der 50er scheiterte es. Ein Jahrzehnt später, ich glaube 1971, wurde es angenommen. Er meint also, dass Ideen auf jeden Fall Zeit brauchen. Aber die Tatsache, dass wir schon Ideen haben, wie zum Beispiel das Grundeinkommen, kürzere Arbeitszeit und offene Grenzen und so weiter, ist gut. Unsere Schubladen sind schon gefüllt. Jetzt müssen diese Ideen reifen, und irgendwann wird sich eine Gelegenheit ergeben. Außerdem geht es wohl darum, sich zu vernetzen. Diese Ideen können in den Mainstream eingehen, wenn sie in immer mehr Köpfe kommen. Wenn wir also von einer Idee überzeugt sind, müssen wir sie verbreiten und uns mit Menschen darüber austauschen. Auch sind wir nicht die einzigen, die schon mal darüber nachgedacht haben. Wenn wir andere treffen, die Ähnliches denken, ist das gut für unsere Moral. Bregman erwähnt übrigens noch ein anderes Schweizer Referendum, und zwar zum Grundeinkommen. Das war 2016. Es wurde abgelehnt.
Lutz: War ja klar.
Lena: Das sagst du so in diesem resignierten Tonfall. Aber denk doch mal! Die Tatsache allein, dass es ein Referendum dazu gegeben hat, ist doch schon revolutionär. Und das war vor vier Jahren. Inzwischen ist viel passiert. Die Leute haben inzwischen viel mehr über das Grundeinkommen gelernt; die Idee ist schon viel bekannter als damals. Auch Dank Bregman. Und wenn es in ein paar Jahren wieder ein Referendum gibt, dann klappt es vielleicht.
Lutz: Dann wäre es wirklich eine Utopie für Realisten.
Lena: Ja, genau.
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